Seite - 115 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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auch viele Punkte, an denen Familienähnlichkeiten zwischen »Vätern und Söh-
nen« sichtbar wurden : Der Kult um ein »mystisches Alt-Wien«69 verband »Väter
und Söhne« in Wien ebenso sehr wie ihre Bindung an humanistische Bildungs-
grundlagen. Interesse für »primitive« Kulturen und die Sehnsucht nach einer
vormodernen Welt sind auf beiden Seiten auszumachen. Antisemitismen und
rassenhygienische VersatzstĂĽcke finden sich ebenfalls mehr oder weniger stark
in den Diskursen der gesamten »Familie«. Auch die »Söhne« waren nicht zuletzt
Teil der für Viertel hochambivalenten »deutschen Kultur« und waren fest im
Beziehungsgeflecht der Wiener Gesellschaft verortet, selbst wenn sie sich von
den Werten ihrer Eltern emanzipiert zu haben glaubten. Denn – so schrieb
Viertel fast resignierend ĂĽber seine »Sohnesgeneration«Â
– »eh wir dessen gewahr
wurden, waren wir beschwichtigt und gefangen. Das Leben lockte, wie immer es
sich bot, und die Kunst war doch schön.«70
Es ist an Viertels Modell bemerkenswert, dass darin Durchmischungen ide-
altypischer Gegensätze und Veränderungen explizit eingeschrieben sind :
»Söhne und Väter« müssen sich aufeinander beziehen und oft werden »Söhne«
zu »Vätern«. Der umgekehrte Weg ist allerdings selten. Damit sind in diesem
Modell Zerstörung und Erhalt, Innovation und Tradition, Modernität und An-
timodernität, Politik und Kultur, Rationales und Irrationales, pluralistische
Kritik und totalitaristische Konzepte ständig familiär ineinander verstrickt und
charakterisieren Ă–sterreich und Wien als Ort eines fĂĽr die Moderne untypi-
schen »nicht nur, sondern auch«.71
Im Exil und im zerstörten Nachkriegsösterreich auf die Wiener Modernität
zurĂĽckschauend konnte Viertel allerdings eine geradezu klassische RĂĽckprojek-
tion nicht vermeiden : Die oppositionellen KulturkritikerInnen hätten, so
meinte er, das Ende der Zivilisation in zwei Weltkriegen vorausgesehen und
bekämpft. Berthold Viertel berief sich in seinem Diskurs um Kulturverfall, De-
generation und Antizipation der Endzeit auf Karl Kraus, der vor 1914 bereits
mehrfach die »Apokalypse« prognostiziert hatte – »[…] damals eine krankhafte
Übertriebenheit ohnegleichen, heute eine sachliche Konstatierung.«72 Kraus
69 Sommer, Monika und Uhl, Heidemarie (Hg.), Mythos Alt-Wien. Spannungsfelder urbaner Identi-
täten, Innsbruck 2009 ; Kos, Wolfgang und Rapp, Christian (Hg.), Alt-Wien. Die Stadt, die niemals
war, Wien 2004.
70 BV, Die Zwischenwelt, o.D., o.S., NK05, A : Viertel, DLA.
71 Beller, Fin de Fin-de-Siècle Vienna, in : Bischof/Plasser (Hg.), Global Austria, 2011, 46–76, 75–76 ;
BV, Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit, in : Ginsberg (Hg.), Dichtungen und Dokumente, 1956,
253–254.
72 BV, Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit, in : Ginsberg (Hg.), Dichtungen und Dokumente, 1956,
254. Diese Passage findet sich interessanterweise nicht in der Erstausgabe : BV, Karl Kraus. Ein
Charakter und die Zeit, Dresden 1921.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359