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Monarchisches
Gefühl | 121
»skandalösen« Erzherzöge traten an die Stelle der sakral-heilsgeschichtlichen
Mythisierung der habsburgischen Herrschaft und verbanden die ethnisch-kul-
turell uneinheitliche Staatskonstruktion weiterhin als »imagined community«
(Anderson).12 Diese Veränderung versuchte Viertel als »Verbürgerlichung« der
Familie Habsburg zu fassen. Da auch die HabsburgerInnen um 1900 »moderne
Menschen geworden« waren – »immerhin« –, sollte diese »höchste Familie des
Reiches« in seinem autobiografischen Projekt handelnd eingeführt werden, »als
wäre sie auch eine bürgerliche Familie mit ihren Sorgen.«13 In vielen Versionen
des Projekts stand die Darstellung der Herrscherfamilie am Anfang seiner Ge-
nerationen- oder »Familiengeschichte«, denn :
[…] in gewissem Sinn ist im Vorkriegsösterreich wirklich alles noch Familienge-
schichte. Die großen kollektiven Mächte kündigen sich bereits an, sie sind es, die das
alte Staatengebilde zu sprengen versuchen, aber es hat alles noch, in einer tragisch-
idyllischen Weise, die Form des Personellen und des Familienhaften.14
Die eigenen jüdischen Herkunftsfamilien Viertel und Klausner waren dabei nur
zwei Familien unter vielen, »deren Desintegrierung« im autobiografischen Projekt
verfolgt werden sollte – neben der Familie Habsburg, die behandelt wurde, »als
wäre es eben auch nur eine Familie« : »Eine Familie an der Spitze : ihr Schicksal
entscheidet das Schicksal der anderen Familien.«15
Nicht nur durch ihre Probleme und Skandale waren die HabsburgerInnen der
Bevölkerung tatsächlich »näher« gerückt, auch die neuen Medien hatten ihr
Leben zugänglicher gemacht und gebärdeten sich dabei keinesfalls »moralis-
tisch«. Man lebte also »familiärer« mit ihnen und ihren Bildern, die man überall
kaufen konnte, zusammen, und war dem »Höheren zugetan«, statt es abgöttisch
zu verehren. Nicht zuletzt wurden die im Theater vermittelten Werte und Ge-
schmacksvorstellungen der Hocharistokratie nachgeahmt.16
Das »monarchische Gefühl«17 hatte sich für Viertel ins bürgerlich Familiäre
gewandelt, manifestierte sich aber nach wie vor in verschiedenen Formen und
12 Hois u.a., Gedächtnis/Erinnerung und Identität, in : Csáky u.a. (Hg.), Kultur, 2004, 215–254.
13 BV, Autobiographie. Österreich. Illusionen, o.D., o.S., K19, A : Viertel, DLA.
14 BV, Österreichische Illusionen/Der Knabe Robert Fürth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
15 BV, Konvolut Autobiographie. Österreichische Illusionen (3 Hefte), o.D., o.S., K19, A : Viertel,
DLA.
16 Viertel beschrieb hier ein Phänomen, das als »parasoziale Interaktion« begriffen wurde und heute in
ähnlicher Weise mit Familien in Fernsehserien funktioniert, Zitate aus : BV, Wiederkehr des kleinen
Lebens, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 45 ; Pollak, Michael, Wien 1900. Eine
verletzte Identität, Konstanz 1997, 25.
17 BV, Wiederkehr des kleinen Lebens, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 44–45.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359