Seite - 128 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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»Habsburgergespenst«, wie Viertel dieses Gefühl – in Anschluss an Karl Kraus’
»habsburgischen Dämon«49 – auch nannte, setzte einen Tag lang in Österreich
»den demokratischen Alltag ein bisserl außer Kraft.«50 Tausende Menschen be-
staunten in der eigens gesperrten Wiener Innenstadt das Begräbnis des »letzten
Thronfolgers« Otto Habsburg (1912–2011), das auch live im österreichischen
Fernsehen übertragen wurde – wie ein Staatsbegräbnis, das keines sein durfte.
Einen Tag lang spielte Österreich wieder Monarchie und löste dabei leichtes
Befremden im In- und Ausland aus.51 Doch dann war es auch schon wieder
vorbei. Berthold Viertel, den angeblich bereits ein Fronleichnamszug im Nach-
kriegswien heftig aufgeregt haben soll,52 hätte vielleicht die »schöne Leich« zwar
nicht unbedingt gefreut, aber andererseits war er schon angesichts der erneuten
politischen Ambitionen Otto Habsburgs in den 1940ern ĂĽberzeugt gewesen :
Dass es heute noch einen Habsburger gibt, der sich in diesen Tagen und Jahren ins-
geheim darauf vorbereitet hat, den Thron seiner Väter wieder zu besteigen, ist eine
paradoxe Tatsache, die psychologisches Interesse und ein mitleidiges Lächeln hervor-
rufen könnte. Sie gehört in das Raritäten-Kabinett der Menschheit. Dynastien sind
also Familien, die jeden Bankrott zu ĂĽberdauern hoffen, auch einen weltgeschichtli-
chen von so ungeheuerlichen AusmaĂźen, wie die Habsburger einen hinter sich haben.
Wer ihre Wiedereinsetzung betreibt, rechnet offenbar mit der Unbelehrbarkeit der
Menschen, mit ihrer Vergesslichkeit und Unwissenheit. Ich kann mir nicht vorstellen,
dass es in Ă–sterreich viele solche Leute gibt.53
Berthold Viertel beschrieb das »monarchische Gefühl« und die mit ihm verbun-
denen Hierarchien und Kommandostrukturen aus einer Perspektive des RĂĽck-
blicks. Insofern bleibt zu bemerken, dass er zwar durchaus »kritisch modern«
gedacht haben mag, aber zugleich 33 Jahre lang »kakanisch« sozialisiert wurde –
Demokratie erlebte er 1918 erstmals auĂźerhalb Ă–sterreichs.
504, der nachwies, dass die Geschichtsforschung »bisher kaum Interesse« an den Mechanismen des
»dynastischen Kultes« und »an dessen Stellung im österreichischen Geschichtsbewusstsein« gezeigt
habe. Cole beschrieb, wie die Auseinandersetzung mit dem habsburgischen Erbe nach 1918 von Kon-
flikten geprägt war und die österreichische Gesellschaft auf den »Habsburger-Mythos« entweder mit
Tabuisierung oder Verklärung reagierte habe. Vgl. Aigner u.a. (Hg.), Das Habsburger-Trauma. Das
schwierige Verhältnis der Republik Österreich zu ihrer Geschichte, Wien/Köln/Weimar 2014.
49 Timms, Kraus, 1999, 545.
50 Tošić, Ljubiša, Einlass auf ohne Herz, in : Der Standard, 18. Juli 2011, 7.
51 Kurier, 17. Juli 2011, 8–9. Hier wurden internationale Reaktionen auf die ORF-Übertragung zitiert.
52 Gespräch der Autorin mit Lotte Tobisch am 5. April 2011.
53 BV, Habsburger, 235, o.D. [wahrscheinlich 1943/44], K13, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359