Seite - 131 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Galizien | 131
auch den in Wien geborenen Kindern der ZuwandererInnen oft noch die Ab-
stammung von der »Aristokratie der Juden« zusammen mit Bruchstücken jüdi-
scher Tradition, überliefert, doch praktische Bedeutung hatte sie für die meisten
keine mehr. Elias Canetti war noch diffus stolz auf seine »dynastische Herkunft«
aus dem »Judentum«.13 Stefan Zweig hingegen empfand das darauf basierende
»ständige Klassifizieren« in seiner Familie als »lächerlich und snobistisch«14.
Berthold Viertel war es immerhin wichtig festzuhalten :
[…] die Linie der Väter beiderseits verlief ins Rabbinische, das die Aristokratie der
Juden bildet. Schriftgelehrte sind ihr höchster Stand, auch wenn sie in Armut leben.
[Der väterliche Zweig der] Familie leitete sich, durch Überlieferung, auf den Stamm
Levi zurück, der in biblischen Zeiten für den Dienst am Tempel auserkoren gewesen.15
Während der Stammbaum der katholischen Habsburger bis ins 13. Jahrhundert
zurück gut dokumentiert ist, verlieren sich die »vielen Väter und Mütter« der
jüdischen Familie Viertel bereits im 19. Jahrhundert im »Dunkel« der Zeit.
Auch für Berthold Viertel war es, abseits einiger tradierter Geschichten und
Anekdoten, »schwierig, etwas von ihnen zu erfahren« :
Die Herkunft eines Juden ist meistens von undurchdringlichem Dunkel erfüllt. Diese
wahrhaft ägyptische Finsternis pflegt schon bei der dritten Generation rückwärts zu
beginnen. Die ausmerzende Hand der Diaspora hat die Lebenslinien dieser Familien
vernichtet. […] Und welchen Grad an innerer und äußerer Zerstreutheit erreicht oft
solch ein Mensch, der der Sohn ist, der Sohn von alledem, Sohn des Ghettos, Sohn
der Vertreibung, der Wanderung, der immer neuen Ankunft […].16
Viertel gab offen zu, dass seine »Beschreibungen« nicht nach »Urkunden vorgin-
gen, sondern »einfach [auf] ein paar zusammengesparte[n] Erinnerungen [auf-
bauen], von denen ich längst nicht mehr weiß, woher sie stammen«17. Einige
Geschichten wurden sicher oft erzählt und ausgeschmückt, andere falsch oder
bruchstückhaft erinnert, wieder andere ganz verschwiegen. Die »Zerstreutheit«
und dichterische Freiheit Viertels erleichtert den rekonstruierenden Abgleich
mit vorliegenden Dokumenten nicht.18 So schrieb er mal von sieben, mal von
13 Hanuschek, Sven, Elias Canetti. Biographie, München 2005, 38.
14 Zweig, Welt, 1992, 24.
15 BV, Familie und Kindheit in Wien (grünes Heft), o.D., o.S., K19, A. Viertel, DLA.
16 BV, Kindheits-Saga, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 17.
17 BV, Konvolut Autobiographie. Österreichische Illusionen (3 Hefte), o.D., o.S., K19, A : Viertel,
DLA.
18 2011 erschloss Georg Gaugusch, der Geschäftsführer des Kleidungsunternehmens Wilhelm Jung-
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359