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Galizien | 133
und fast selbst ein Heiliger in einer mittelgroßen Kreisstadt […], vielmehr im
jüdischen, noch immer Ghetto-ähnlichen Teil dieser Stadt« beschrieben. Bei der
Stadt handelte es sich um den Bischofssitz Tarnów, etwa 80 Kilometer südöst-
lich von Krakau, dessen mittelalterliche Bebauung sich bis 1914 erhielt und
dessen Kirchen als besonders sehenswert galten.24 Chiel Viertel wurde später in
den Heiratsmatriken der Israelitischen Kultusgemeinde Wien einfach als »Ge-
schäftsmann« geführt. Als frommer Gelehrter allerdings inspirierte er Berthold
Viertel, als dieser – unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Judenverfol-
gung
– zurückblickte. Eine Geschichte, die er öfter erzählte, sollte Chiel Viertels
innige Verbindung zu Gott verdeutlichen : Kurz vor seinem Tode betete der
weißhaarige alte Chiel, mit dem »Körper eines abgemagerten Lazarus«, so
»herzzerberstend«, dass er das Ende des Gottesdienstes nicht bemerkte. Die
Umstehenden sahen den unter Tränen und Klagen weiter Betenden betreten an.
Er aber ließ sich nicht beirren und führte erst, als er fertig war, den silberbestick-
ten Gebetsmantel an die Lippen, seufzte und sagte, »voll Zärtlichkeit« hoch-
schauend : »Oi, oi, oi, Tatleben !«
»[D]er Fromme, der Bibelgelehrte, gilt tausendmal mehr innerhalb der Ge-
meinde als der Reiche«, bestätigte Stefan Zweig Viertels Stolz auf diesen Groß-
vater.25 Berthold Viertel stellte sich
– sicherlich beeinflusst von zeitgenössischen
Projektionen und idealisierenden Rückbesinnungen auf das »traditionelle Ost-
judentum« – das Leben seiner Großeltern väterlicherseits, die zeitlebens in
Tarnów blieben, folgendermaßen vor :
Sie [Mindel Viertel] hatte ihr Leben lang für einen Gatten, der, den Büchern unab-
lenkbar zugewandt, für das praktische Dasein nur selten einen Handgriff und kaum je
einen Blick übrig hatte, sorgen und arbeiten müssen, doch verehrte sie ihn – dem
Beispiel der übrigen Glaubensgenossen folgend – wenn auch unter Seufzern. Der
Mann war, bis er betagt [1891] an einem Magenkrebs starb, immer mild und an-
spruchslos gewesen. […] Seine ehelichen Pflichten, soweit sie liebender Natur waren,
erfüllte er bis ins Alter zur Zufriedenheit der heißblütigen Frau. Das Sinnlich-Patri-
archalische verstand sich bei diesen Leuten von selbst, sie waren keine Asketen.26
24 Orlowicz, Mieczylaw und Kordy, Roman, Illustrierter Führer durch Galizien, Wien 1914, 164–168.
Erst heute wirbt die Stadt vor allem mit ihrer jüdischen Tradition.
25 Zweig, Welt, 1992, 25.
26 BV, Konvolut Autobiographie. Österreichische Illusionen (3 Hefte), o.D., o.S., K19, A : Viertel,
DLA. So wie Viertel es beschrieb, bestimmte das »religiöse« Ideal, dass jüdische Frauen »[…] die
alleinigen Familienerhalterinnen [waren], während die Männer zu Hause blieben und ihren Stu-
dien nachgingen« als Norm den Alltag in Osteuropa, wenn es auch nicht durchgehend anzutref-
fen war. Der jüdische Soziologe und Zionist Arthur Ruppin schrieb hingegen in einer falschen
Rückprojektion den osteuropäischen Jüdinnen und Juden das bürgerliche, zentraleuropäische Fa-
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359