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Galizien | 137
zwei Nachzügler : die dunklere, mehr »gewöhnliche«, »alte Jungfer« Netti
(*05.10.1874, †21.03.1932), »auf deren Nasenspitze die Torheit saß«34, und
Bertholds junger Onkel Leo Klausner (*03.10.1878, †19.09.1941), »Begabung
und der Stolz der Familie«. Was diese kurzen Personenbeschreibungen betrifft,
machte Berthold Viertel übrigens in der Art eines »all persons fictitious disclai-
mer« klar :
So habe ich mir als Kind diese Personen zurechtgelegt […] in dem Privattheater
meiner Erinnerung, das vor meinem inneren Ludwig dem Vierzehnten spielt. Jedes
Ich sein eigener Sonnenkönig […]. Alle Personen sind mit meiner Saga verwachsen
[…]. Sie haben kein Eigenleben, oder doch nur jenes, das ihnen zuzubilligen sie mir
abgenötigt haben, indem sie mich hemmten oder mir Grenzen setzten […].35
Am 10. Februar 1884 verbanden sich diese beiden galizischen Familien, als im
Wiener Stadttempel die 22-jährige Verkäuferin Anna Klausner und der 23-jäh-
rige Buchhalter Salomon Viertel »nach bürgerlichen Gesetzen und israeliti-
schen Gebräuchen« getraut wurden. Der bekannte liberale Wiener Großrabbi-
ner Dr. Adolf Jellinek vollzog die Trauung. Trauzeugen waren Anna Klausners
Vater und Salomon Viertels Bruder Leopold.36 Keine Quellen, nur Berthold
Viertels Erinnerung an ein später stattfindendes Hochzeitsfest seiner Tante Eva
gibt darüber Aufschluss, ob und wie gefeiert wurde. Kann angenommen werden,
dass es sich ähnlich abspielte ? Zahlte jemand aus der Verwandtschaft – in Vier-
tels Erzählung war es sieben Jahre später seine damals bereits als wohlhabend
geltende Mutter, die die Hochzeit ihrer Schwester unterstützte
– ein Buffet »mit
kalten Speisen und Salaten […] gleich einem Altar« ?
Feines Geschirr, Porzellan und Glas, ferner silbernes Besteck waren entliehen worden.
Zu den Gästen gehörten wohlhabende Geschäftsleute in ihren Feiertagskleidern. […]
Gewiß wurden auch damals teils komische, teils sentimentale Gedichte aufgesagt, die
einer der Onkel geliefert hatte. Ein zweiter Onkel besaß einen berühmten Tenor, den
er zu Ehren seiner Schwester zweifellos erklingen ließ. Es muss Wein getrunken,
häufig getoastet und viel gelacht worden sein.«37
34 BV, Tod der Lüge, 1. Tagebuchblatt am 5. Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel, DLA ; sie wurde in
der Fischerstiege Nr. 5, 1010 Wien geboren und war entgegen Viertels Darstellung verheiratet.
35 BV, Wiederkehr des kleinen Lebens, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 42.
36 Trauungs-Zeugnis, 30. Juni 1884, K21, Nachlass A : Viertel, DLA bzw. Heiratsmatriken der IKG
Wien 1884, RZ 656. Als Adressen des Brautpaares werden angeführt : Salomon Viertel – Tandel-
marktgasse 13, Wien II ; Kressel/Anna Klausner
– Salzgries 19, Wien I.
37 BV, Menschenrassen, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 47–48.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359