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142 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
den. Sie fielen mich an wie die Kinderkrankheiten […]. Aber sie hörten nicht […] mit
der Kindheit auf.12
Den »Illusionen der Epoche« unterlagen, so meinte Viertel, vor allem aber seine
Eltern in ihrer Hoffnung auf sozialen Aufstieg und in ihrem Willen zur mate-
riellen »Verbesserung«. Ihr »Sinn für bürgerliche Ordentlichkeit«, bei beiden
»hochentwickelt und geradezu gebieterisch«, verband das Ehepaar, das sich an-
sonsten – ganz im Sinne der modernen Geschlechterdifferenz, die ebenfalls ein
bürgerliches Distinktionszeichen war – dem Sohn als charakterlich sehr unter-
schiedlich darstellte, ihn aber gleichermaßen beeinflusste :13
In ihm kämpfen beide Anlagen : der naive und aggressive Optimismus des Vaters, voll
Geselligkeitsdrang und einer Lebenslust, die kein heilsames Ziel findet ; und die skep-
tische, zur Melancholie neigende Seele der Mutter, die alles Handeln ablehnt und sich
in der Beschaulichkeit aufbauen will. Gegen beide Anlagen kämpft er in sich, beide
bringen ihn in Konflikte […].14
In den Jahren um die Geburt des ersten Sohnes machten sich die Eltern selbst-
ständig : Anna Viertel eröffnete ein Geschäft für »Sonn- und Regenschirme« in
der Mariahilfer Straße 119, das ab 1891 auch im Wiener Adressbuch verzeichnet
ist, über das aber im autobiografischen Projekt sonst nichts zu erfahren ist. Salo-
mon führte ein Möbelgeschäft in der Seidengasse 26. Später besaß er eine Mö-
belfabrik in der Millergasse 22 und Geschäfte mit wechselnden Adressen, alle
innerhalb des sechsten und siebenten Wiener Gemeindebezirks.15 Die ständigen
Umzüge innerhalb derselben Gegend, auf der Suche nach »besseren« Räumlich-
keiten, für das in Schwung kommende Geschäft, bilden den ruhelosen Aufstiegs-
willen ab. Berthold Viertel erinnerte sich später an ein repräsentatives Möbel-
geschäft, in dem »viele Zimmer aufgebaut [waren], zwischen denen man
herumgehen konnte, wie in vielen Wohnungen, die zueinander offen waren
[…]«16. Bis das erreicht war, brauchte es offenbar einige Jahre und einige Umzüge.
Mit raschem wirtschaftlichem Aufschwung ging idealtypisch auch »Assimi-
lation« einher.17 Das junge Paar galt innerhalb der jüdischen Großfamilien
12 BV, Biographische Notizen, o.D., o.S., K19, A : Viertel, DLA.
13 BV, Familie und Kindheit in Wien (grünes Heft), o.D., o.S., K19, A : Viertel, DLA ; Bührmann,
Andrea, Der Kampf um die weibliche Individualität. Zur Transformation moderner Subjektivie-
rungsweisen im Deutschland um 1900, Münster 2004, 50–60.
14 BV, Österreichische Illusionen/Der Knabe Robert Fürth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
15 http://www.digital.wienbibliothek.at/periodical/titleinfo/5311 (zuletzt : 23.11.2016).
16 BV, [Marie], in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 37.
17 »Assimilation« bleibt ein analytisch problematischer und umstrittener Begriff, der nicht in der Lage
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359