Seite - 144 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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144 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
Veränderung weg von der praktizierten Religiosität hin zu zunehmend einfluss-
reicheren bürgerlichen Werten – europäische »deutsche Kultur« und »Familie,
Bildung […], Leistung und Erfolg« – beschreiben.22 Eigentlich handelte es sich
hier um eine fast schon stereotype Geschichte für die erste Generation jüdischer
ZuwandererInnen, doch sie verlief in jedem Fall unterschiedlich und blieb, was
die »gefühlte« Identität anging, undurchschaubar. Für Berthold Viertels »Soh-
nesgeneration« – die »zweite« oder »dritte« nach der Zuwanderung – wurde die
Sache mit der »jüdischen Identität« noch komplizierter. Sie stieß, beim Versuch
den »Widerspruch zwischen innen und außen zu überwinden«, auf neue Hin-
dernisse.23
Der Schriftsteller Edmund De Waal, der sich auf den Spuren seiner jüdi-
schen Familie im Wien um 1900 bewegte, stellte fest : »Mir wird klar, dass ich
nicht weiß, was es bedeutet, zu einer assimilierten, akkulturierten jüdischen
Familie zu gehören. Ich verstehe es einfach nicht. Ich weiß, was sie nicht getan
haben : Sie gingen nie in die Synagoge, aber die Geburten und Hochzeiten
wurden im Rabbinat verzeichnet.«24 Auch einem Kind, geboren 1885, fielen die
religiösen Praktiken seiner Familie wahrscheinlich vorerst weniger auf als die
akkulturierte Umgebung im Kleinbürgertum mittlerer Wohlhabenheit :
Der Knabe wusste nicht, in welche Welt er hineingeboren war. Er verstand nicht, –
ebenso wenig wie seine Eltern – was all die Nippesfiguren aus Porzellan meinten ;
obwohl seine Eltern begriffen, dass sie den Beginn des bürgerlichen Wohlstandes, und
also den Aufstieg bezeichneten. Für seine Mutter gehörten sie überdies der Welt des
Schönen an, in die sie sehnsuchtsvoll hineinstrebte. Kenner der Epochen hätten sie in
das Biedermeier eingereiht, das eine bürgerliche Flucht in die Idylle aus dem reaktio-
nären Zwang des Metternich’schen Systems […] bedeutet hatte.25
Berthold Viertels Eltern hatten »ihr Heim gegründet, sie fühlten sich darin si-
cher, als ob es nicht in Polen ein Ghetto und in Russland zu gleicher Zeit Pog-
rome gegeben hätte.«26 Sie sahen in den Gründerzeithäusern, die sie in Maria-
hilf und Neubau bewohnten, und in ihren mit schweren, dunkel gebeizten
22 Lichtblau (Hg.), Als hätten wir …, 1999, 82 ; Weiler, Bernd und Stachel, Peter, Methodische Über-
legungen zur vergleichenden Analyse politischer und kultureller Beziehungen in multiethnischen
Gesellschaften, in : Csáky u.a. (Hg.), Kultur, 2004, 45–62.
23 Bolbecher/Kaiser, Nachwort, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 357–368, 363. Vgl.
»Luegers Wien« und »Mitschüler Hitler«.
24 De Waal, Edmund, Der Hase mit den Bernsteinaugen. Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi,
Wien 2011, 159.
25 BV, Österreichische Illusionen/Der Knabe Robert Fürth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
26 BV, Autobiographie. Österreich. Illusionen, o.D., o.S., K19, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359