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Jüdisches
Wien | 145
Möbeln, Perserteppichen, Häckeldeckchen und Meißner Figürchen eingerich-
teten Wohnungen keine »verlogene Pracht«. Diese Wohnungen waren im Ge-
genteil die »Beglaubigung dafür, dass die Familie es weit gebracht hatte, bis auf
die Höhe eines berechtigten Standesbewusstseins.«27 Viertel illustrierte im au-
tobiografischen Projekt sein rückblickendes Misstrauen gegen (klein-)bürgerli-
che Anpassung nicht nur durch solche Nebensätze, sondern auch symbolisch,
wenn er in einigen Konvoluten eine Szene an den Anfang stellte, in der sein
vierjähriges Alter-Ego beim Herumtoben mit dem tschechischen Hausmeis-
tersbuben in der elterlichen Wohnung eine Nippesfigur, einen Schwan aus
Porzellan, zerbrach. Das sollte den Anfang vom Ende illustrieren, denn später,
»als die braunen Horden einbrachen«, erlitten »brave Leute« um solcher Woh-
nungen willen »den Opfertod«.28
Doch das konnte um 1885 noch kaum jemand ahnen und in der kleinbürger-
lichen Wohnung seiner Eltern wurde dem »Anfänger des Lebens« die Welt der
traditionellen Jüdinnen und Juden, die familiär ganz nahelag, tatsächlich eine
»entsetzlich« fremde. Das brachte Viertel in seiner Erzählung Die Menschenras-
sen zum Ausdruck, der Geschichte eines Schockerlebnisses.29 Darin beschrieb er,
wie er als Siebenjähriger bei der Hochzeit seiner Tante Eva, die im August 1892
im Hause seiner Großeltern Klausner in der Unteren Augartenstraße 23 statt-
fand, einschlief und von den Eltern über Nacht in der zwar sauberen, aber –
ohne Parkettböden und Nippes – »proletarischen Behausung« zurückgelassen
wurde.
Der Knabe erwachte, als der Morgen graute, und fand sich in der fremdesten Umge-
bung […] zwischen zwei ruhenden Gestalten, die sich, auf sein Geschrei hin […]
aufrichteten. Es waren die Großeltern und sie erschienen ihm furchtbar und absto-
ßend über die Maßen […], der Großvater mit seinem langen, bereits grauen Bart, und
die rundliche Großmutter, deren Kopf entblößt war von dem glatten schwarzen
Scheitel [Perücke], den sie sonst über dem nach religiöser Vorschrift kurzgeschnitte-
nen Haar der verheirateten Frau trug. Nun wies dieser Kopf einen gelblich weißen
Flaum [auf] und der entsetzensvolle Eindruck des Knaben war, dass sie einem gerupf-
ten Vogel glich […]. Er heulte wie ein Wolf […]. Aber der Wolf war auch ein kleiner
Snob, der sich in einem reicheren Bette zwischen ästhetischer ausgestatteten Großel-
27 BV, Wir sind alle nette Menschen, o.D., o.S., K11, A : Viertel, DLA.
28 BV, Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 122–123 – dieser Satz
folgt der Beschreibung des Viertel’schen Speisezimmers en detail.
29 Der Historiker Albert Lichtblau zitiert Viertels Geschichte als Beleg für solche Tendenzen unter
Juden/Jüdinnen der zweiten Generation
– Lichtblau (Hg.), Als hätten wir …, 1999, 79. Solche Ent-
fremdungsgeschichten gehörten allerdings durchaus zum Repertoire der Zeit und finden sich auch
bei Franz Kafka oder Alfred Döblin.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359