Seite - 148 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Leopold starb Ende Oktober 1919 an einem Herzfehler im Allgemeinen
Krankenhaus und wurde beim IV. Tor des Wiener Zentralfriedhofs begraben.40
Während Salomon seinen Nachkommen zwei Häuser in der Hietzinger Straße
hinterlieĂź, bestand Leopolds Besitz bei seinem Tode nur aus den Kleidern, die
er am Leibe trug. Seine Tochter Auguste Hanusch musste für die Begräbniskos-
ten aufkommen.41 Sein GrabsteinÂ
– wie auch der von Viertels ElternÂ
– ist heute
bereits so verwittert und ĂĽberwachsen, dass er sich anhand der Grabnummer nur
unsicher bestimmen lässt. Leopold Viertls Kinder hinterlieĂźenÂ
– so sie nicht wie
Rudolf Firtel vor 1938 starben – nicht einmal mehr Grabsteine. Ihre Spuren
verlieren sich teilweise völlig und es ist anzunehmen, dass sie Opfer der Shoa
wurden. So wurden etwa die beiden ältesten Schwestern – Fanni, die unverhei-
ratet blieb, und Auguste – am 14. Juli 1942 aus einer Sammelwohnung in der
Zirkusgasse 33/8 nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet.42 Auguste
war 1911 aus der Kultusgemeinde ausgetreten, um einen Christen namens
Hanusch zu heiraten. Nachdem sie verwitwet oder geschieden war, trat die bis
dahin konfessionslose Auguste Hanusch am 4. August 1938 wieder ins »Juden-
tum« ein – ob aus Trotz, Fatalismus oder aus der Hoffnung auf (Flucht-)Hilfe
durch internationale jĂĽdische Organisationen ist unklar.43
Diese Lebenswege seiner Cousins und Cousinen waren Berthold Viertel
wahrscheinlich kaum oder gar nicht bekannt. Immerhin fĂĽgte er dem autobio-
grafischen Projekt einen Brief von Theresia oder »Reserl« Klein bei, einer über-
lebenden Tochter Leopold Viertls. Sie hatte sieben Jahre im Konzentrationsla-
ger ĂĽberlebt, ihren Mann und ihre Geschwister verloren und kontaktierte
Viertel in New York im Oktober 1945 mit der Bitte um Schneeschuhe, Größe
39 – mit ihr wurde also auch ihre Geschichte gerettet. Viertel erinnerte sich
daran, dass das sieben Jahre ältere »Reserl« als Mädchen auf ihn aufgepasst hatte
und er ihr stundenlang selbsterfundene Märchen erzählt hatte.44 Und nicht nur
diese Erinnerung zeigt, dass es durchaus kontinuierliche Verbindungen der
»aufsteigenden« Kernfamilie Berthold Viertels zur »proletarischen« Neulerchen-
40 Sterbematriken der IKG Wien 1919, RZ 2662.
41 Verlassenschaftsabhandlungen nach Leopold Viertel, Anna Viertel und Salomon Viertel, BG
Hernals, A4/4 : 4A 1139/19, BG Hietzing, A4/2 : 2A 559/32 und BG Hietzing, A4/2 : 2A 65/33,
WStLA.
42 Opferdatenbanken des DÖW (Shoa-Opfer) : Einträge zu »Gusti Hanus« und »Fanny Viertel« –
http://de.doew.braintrust.at/shoahopferdb.html (zuletzt : 01.12.2016).
43 Proselyten der IKG Wien 1938, RZ 931 und Statistik/Auskunft von Wolf-Erich Eckstein (IKG
Wien), Februar 2012 : Während in den 1910er- und 1920er-Jahren pro Jahr durchschnittlich 50 bis
150 ausgetretene JĂĽdinnen und Juden sich zum Wiedereintritt entschlossen, wurden 1938 rund 350
Wiedereintritte verzeichnet.
44 BV, [Reserl], in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 246.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359