Seite - 152 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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152  | Erinnerungsorte 
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Wiener 
Moderne
isch macht, lebte in Marie […]. Marie ist eine meiner tiefsten Erinnerungen – eine
Erinnerung ohne Gesicht.8
Viertels »Marie« ist – als Mädchen, nicht als Frau – zugleich Inbegriff eines
mütterlichen, katholischen Österreich (quasi eine »Allegorie der Nation«),
Sexual objekt und Trägerin der deutschen Kultur. Untersuchungen zu solch ge-
schlechtlich codierten Repräsentationen der Nation zeigten im Hinblick auf
politische Handlungsräume realer Frauen, dass solch idealisierte weibliche Bil-
der Geschlechternormierungen befördern.9 Tatsächlich waren die Handlungs-
räume dieser oft idealisierten Hausangestellten sehr beschränkt :
Hausarbeit um 1900 umfasste eine Fülle von körperlich anstrengenden und
zeitraubenden Tätigkeiten, die sich schwer neben der Erwerbsarbeit erledigen
ließen. Daher wurden vornehmlich Frauen (94,7 Prozent) für diese häuslichen
Dienste angeworben, die keine formale Qualifikation erforderten. Sie waren
rechtlich völlig ungeschützt, hatten keine festen Arbeitszeiten, lebten (zumeist
alleinstehend) bei der »Herrschaftsfamilie« und wurden so schlecht bezahlt, dass
sogar Handwerker und kleine Geschäftsleute sich »Dienstmädchen« leisten
konnten. Diese Frauen kamen oft vom Land und waren im Falle der Viertels
Ober- und Niederösterreicherinnen, aber auch Tschechinnen und Polinnen : Sie
alle waren katholischer Konfession.10
Wie viele jĂĽdische Knaben seiner Zeit (etwa auch Sigmund Freud oder Franz
Werfel) wurde Berthold Viertel von seiner »Marie« in die Kirchen der Umge-
bung »zum Beten« mitgenommen und »auch im Glauben« belehrt. Obwohl
jĂĽdische Familien zu christlichen Gesellschaftskreisen meist noch Distanz hiel-
ten, gab es doch »überall Kirchen in der Stadt, ältere, zeitgeschwärzte, und jün-
gere, in lichter Zierlichkeit, wuchtige Türme und solche in Filigran […] ; wer in
einer Kirche beten wollte, konnte nicht in Verlegenheit geraten.«11 Bereits der
visuelle Eindruck des Christentums war also mächtig, das »katholische Mittel-
alter fühlbar genug«12. Während Viertels Eltern ihrem Sohn keine bewusste
jüdische Identität durch religiöse Erziehung vermittelten, war das Kind ständig
mit diesen Eindrücken konfrontiert. Es besuchte auch oft ein »christlich stilles
Paar«Â
– eine verwitwete Mutter und ihren SohnÂ
– das zwei Stockwerke über den
8 BV, [Marie], in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 32–22.
9 Bader-Zaar/Gehmacher, Ă–ffentlichkeit und Differenz, in : Gehmacher, Johanna und Mesner, Maria
(Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte, 2003, 165–182, 174 ; Anne Higonnet, BilderÂ
– Schein
und Erscheinung, MuĂźe und Subsistenz bzw. Frauenbilder, in : Duby/Perrot (Hg.), Geschichte der
Frauen, 2006, 283–372.
10 Anderson, Vision, 1994, 117–125.
11 BV, Die sieben Jahre sind um, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 20.
12 BV, Harry Heine, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 69.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359