Seite - 167 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Deutsche
Kultur | 167
denn noch konnten sich auch Jüdinnen und Juden als »deutschnational« verste-
hen.
Hochproblematisch war für Berthold Viertel allerdings, wie der Nationalso-
zialismus später fast auf dem gesamten hier skizzierten Spektrum der deutschen
bürgerlichen Kultur aufbauen konnte, vom Idealismus bis zum Naturalismus.33
Die von Viertel diagnostizierte »Ambivalenz« oder »Doppelgesichtigkeit« der
bürgerlichen deutschen Kultur – ihr Pendeln zwischen einem »ideellen, nie
durchgesetzten Weltbürgertum« und einer »nationalistischen Rabies« – ermög-
lichten das.34 An der durch diese »Janusköpfigkeit« bedingten »Blamage aller
deutschen Kulturwunder« (an der »posthumen Blamage Goethes«, aber auch
Wagners und Nietzsches) – zu der es kam, weil sie sich nicht gegen propagan-
distische Vereinnahmung durch das Dritte Reich sperrten – arbeitete sich Ber-
thold Viertels im Exil immer wieder ab :35
[Es] drängt sich […] die Frage nach der einst viel gerühmten deutschen Kultur auf :
ob man »Kultur« nun definiert als den Vorrat an großen Werken, das Erbe der Jahr-
hunderte, das den kristallisierten Geist eines Volkes darstellt ; oder als das anerzogene
und herausgebildete Verhalten, das als Kultur und Zivilisationsniveau angesprochen
wird, wozu gewiss auch das Verhalten der deutschen Arbeiterschaft gehört […]. Es
soll nicht geleugnet werden, dass der so unerschütterliche Kriegsgehorsam der Deut-
schen – zunächst abgesehen von der Bereitschaft zur Teilnahme an den besonderen
Greueln dieses Krieges
– einer Jahrhunderte alten Tradition des Fühlens und Denkens
entspricht, die der Nationalsozialismus nur ausbeutete, die er aber keineswegs geschaf-
fen hat.36
Der »einst viel gerühmten deutschen Kultur« zugrunde lag für Berthold Viertel
der deutsche Idealismus und die deutsche Klassik, die seine »Vätergeneration« so
hoch verehrt hatten. Philosophisch und kulturell ging es hierbei, vereinfacht
gesagt, um den »Glauben an die moralische Verbesserung der Menschheit« und
den Glauben an »Pflicherfüllung« – beide Konzepte wurden als spezifisch
»deutsch« wahrgenommen. Dazu kamen – in verschiedenen Ausformungen –
Vorstellungen von »Schicksal«, »Vorsehung« und »Naturgesetz«. Der Eklektiker
Hitler war jedenfalls semantisch ein »Kostgänger des deutschen Idealismus« und
33 BV, Für Gerhart Hauptmann bzw. Gerhart Hauptmann. Ein kritischer Nachruf, in : Kaiser/Roessler
(Hg.), Viertel, Überwindung, 1989, 42–45 bzw. 227–231.
34 BV, o.T., o.D., o.S., K14, A : Viertel, DLA.
35 BV, Der posthistorische Mensch/Der Schmelztiegel, o.D., 73, K12, A : Viertel, DLA.
36 BV, Deutsche Kultur – Gestern und Morgen, o.D., o.S., NK10, A : Viertel, DLA ; BV, Deutsche
Kultur in Vergangenheit und Zukunft, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwindung, 1989, 171–
179, 172.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359