Seite - 168 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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168 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
reicherte die Begrifflichkeiten des Dritten Reichs auch mit vulgäridealistischen
Elementen an.37 Berthold Viertel erkannte, dass er mit einer »raffinierten Vari-
ante der Kantschen Ethik« arbeitete, um die NationalsozialistInnen »zum ver-
geblichen Kampf bis zum Untergang« zu verpflichten – der Faust wurde dazu
im Tornister mitgetragen.38
Das machte also bereits den klassischen »Idealismus« und »Humanismus«
problematisch, doch es waren für Viertel vor allem zwei Protagonisten der neu-
eren deutschen Kultur, die diese jahrhundertealten (bürgerlichen) »Traditionen
des Fühlens und Denkens« in ihrer Ambivalenz nochmals so ausformten und
popularisierten, dass der Nationalsozialismus und seine Gegner gleichermaßen
darauf Bezug nehmen konnten : Die »Anti-Dioskuren und Tod-Freunde« Fried-
rich Nietzsche und Richard Wagner.39
Beide Männer und ihre philosophisch-künstlerischen Konzepte um Götter,
Helden und Übermenschen faszinierten das gesamte ideologische Spektrum der
Gesellschaft um 1900, auch über Generationen hinweg. Beide waren Kultfigu-
ren sowohl in progressiven sowie in nationalistischen Kreisen. Personen wie
Victor Adler, Gustav Mahler oder Theodor Herzl wurden von nietzscheanischem
und wagnerschem Gedankengut beeinflusst.40 Während Karl Kraus erklärte,
den »Kinderkrankheiten« Nietzsche und Wagner (wie auch Freud und Marx)
entgangen zu sein,41 erlag Berthold Viertel als junger Mann, jedenfalls zeitweise,
der Anziehungskraft dieser lebens- und kunstreformerischen Modelle : »[…] ich
hatte auch meine […] Richard Wagner-Periode. Natürlich gingen wir durch
Schopenhauer und Nietzsche.«42
Vor allem Nietzsche als ein »Seismograph des europäischen geistigen Lebens«
hatte ungeheuren Einfluss. Er behandelte Fragen, die das moderne Leben auf-
warf, führte geistliche und weltliche Autoritäten vor und bot so eine sehr offene
und anpassungsfähige Projektionsfläche. In ihm bündelten sich postaufkläreri-
sche, libertäre und irrationale Haltungen und durch ihn modernisierten sich
Vorstellungen von »Schicksal«, »Vorsehung« und »Naturgesetz«. Vorerst wurde
37 Kittsteiner, Deutscher Idealismus, in : François/Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, 2001, Bd
1, 170–186.
38 BV, Deutsche Kultur
– Gestern und Morgen, o.D., o.S., NK10, A : Viertel, DLA.
39 BV, Deutsche Kultur in Vergangenheit und Zukunft, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwin-
dung, 1989, 171–179, 172 ; BV, Der posthistorische Mensch/Der Schmelztiegel, o.D., 73, K12, A :
Viertel, DLA.
40 Maderthaner, Politik als Kunst, in : Nautz/Vahrenkamp (Hg.), Wiener Jahrhundertwende, 1993,
759–776.
41 Timms, Kraus, 2005, 422–423.
42 BV an Alfred Polgar, undatiert [um 1950], 91.15.218, K32, A : Viertel, DLA ; BV, Tod der Lüge,
1.
Tagebuchblatt am 5.
Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359