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170 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
Siegfriede – kein Friede ohne Sieg, und also ohne Krieg – das Schwert zu schwingen,
oder zumindest damit herumzufuchteln.46
Während Wagner »zum Verzicht riet« und seine »Heiligsprechung […] der
Lohn für die negative Lösung der sozialen Frage« war, prophezeite Nietzsche
bereits die »blonde Bestie« und »riet zur Gewalt« : »Die Metaphysik, die er
[Nietzsche] bei der einen Tür hinausgejagt hatte, ließ er bei der anderen wieder
herein. Die Entwicklung ging falsch […] : Zum Übermenschen – mit Über-
springung des Menschen. Resultat der Unmensch.«47 Die »deutsche Kultur«
träumte also, so Viertel, vom »Übermenschen, bevor sie ihre Menschlichkeit
verwirklicht hatte.«48 Auch die deutsche Arbeiterschaft passte sich, wie Viertel
meinte, zu sehr an diese bürgerliche Kultur an und »bezahlte ihre Wohlfahrt und
ihre sonstigen Errungenschaften mit ihrer sozialen Utopie und dem Offensiv-
geist.« Und schließlich räumte der Erste Weltkrieg »mit den letzten Hemmun-
gen der Humanität« auf :49 Kant untermauerte ideologisch verzerrt die Bedeu-
tung des »militärischen Pflichtgedankens«, Nietzsche wurde zum »Philosophen
des Krieges« schlechthin und Wagner lieferte die martialische Musikstimmung
dazu.50
Hitler musste nichts mehr erfinden, erklärte Viertel, denn er fand bei Wagner
und Nietzsche, aber eben auch bei Kant, Hegel und Fichte, ja sogar Goethe,
alles vor – bis zur Idee des Dritten Reiches. Und die »in seinem Kopfe herr-
schende Verschmelzung« erwies sich als »ungemein zukunftsträchtig«.51 Dichter
wie Stefan George und Historiker wie Oswald Spengler, die »aus der Kultur
etwas esoterisch Übermenschlich-Unmenschliches« machten, leisteten für Vier-
tel weitere entscheidende Vorarbeiten zum Programm des Nationalsozialismus.52
»Was tut Hitler anders, als daß er das Erbe antritt, das Programm erfüllt : den
Untergang des Abendlandes und die Götterdämmerung noch dazu.«53 Es ergab
sich also für Viertel die paradox anmutende Schlussfolgerung :
46 BV, Aus dem deutschen Heldenleben, o.D., o.S., NK15, A : Viertel, DLA.
47 BV, Deutsche Kultur in Vergangenheit und Zukunft, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwin-
dung, 1989, 176.
48 BV, Der Kampf um das Drama, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwindung, 1989, 75–83, 76.
49 BV, Deutsche Kultur in Vergangenheit und Zukunft, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwin-
dung, 1989, 177–178.
50 Sieg, Ulrich, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche De-
batten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001, 132–151.
51 BV, Die Heimkehr des verlorenen Sohnes, o.D., 240/a, K13, A : Viertel, DLA.
52 BV, Hitler und Österreich, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwindung, 1989, 131–137, 134 ;
BV, o.T.
– Deutsche Kultur in Vergangenheit und Zukunft, o.D., o.S., NK13, A : Viertel, DLA.
53 BV, Deutsche Kultur in Vergangenheit und Zukunft, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwin-
dung, 1989, 171–179, 177.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359