Seite - 171 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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  Deutsche 
Kultur |  171
Nicht aus Mangel an Kultur konnte dies allesÂ
– ideologisch genommenÂ
– geschehen,
sondern wegen einer gespaltenen, ambivalenten Kultur. Der groĂźe Fortschritt, den
die deutsche Zivilisation im neunzehnten Jahrhundert genommen hat, wird im
zwanzigsten Jahrhundert, nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und während der
Weltkrise, zum negativen Fortschritt, der von innen nach auĂźen abgeleiteten Ag-
gression, der Weltaggression. Entsetzlich, es auszusprechen : aber die Vorbereitung,
die Durchführung des totalen Krieges stellt tatsächlich […] ein Höchstes an Zivili-
sation dar.54
Berthold Viertel war es wesentlich, diese kulturellen Kontinuitäten abzuklären
und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, um die humanistischen und progressi-
ven Elemente der »deutschen Kultur« nach dem Zweiten Weltkrieg wieder
aufgreifen zu können.55
Aber die grossen Schlachten sind verloren, / Die blutigen Propheten abgetan / Das
Volk aus diesen Aschen neugeboren, / Es erbe nicht den alten Wahn. / Wie ? Oder
geht es fort ? Reimt sich der deutsche BĂĽrger / Auch in der Zukunft auf den Leib-
und SeelenwĂĽrger ?56
Solch eine Auseinandersetzung war nicht selbstverständlich – viele ExilantIn-
nen wandten sich im Gegenteil ganz von der deutschen Sprache und Kultur ab,
während im Nachkriegsösterreich kulturelle Kontinuitäten kaum problemati-
siert wurden. Berthold Viertel hingegen war keiner [d]er nicht mehr Deutsch
spricht »aus Zorn und tiefer Scham«, denn das erschien ihm als »kindisch armer
Trotz«,57 obwohl er im Exil wusste : »Daß ich bei Tag und Nacht, / In dieser
Sprache schreibe, […] / Es wird mir viel verdacht.«58
Den rationalen, sozialen und eben tatsächlich »humanistischen« Traditionen
der deutschen Kultur blieb Berthold Viertel immer verpflichtet. Doch auch die
andere Seite der deutschen Kultur, die »idealistische« bis irrationale, nationale
bis mythische und letztlich unmenschliche Traditionslinie kannte er seit seiner
54 BV, Ergänzung zu »Deutsche Kultur in Vergangenheit und Zukunft«, in : Kaiser/Roessler (Hg.),
Viertel, Ăśberwindung, 1989, 355.
55 Bemerkenswert ist dabei vor allem, wie früh er die Problematik der »deutschen Kultur« zu verstehen
versuchte. Das Werk Erbschaften dieser Zeit des deutschen Philosophen Ernst Bloch dĂĽrfte sein
Unternehmen dabei wesentlich beeinflusst habenÂ
– er stand auch mit Bloch in freundschaftlichem
Austausch (Bloch, Ernst, Erbschaften dieser Zeit, Frankfurt am Main 1962 und Briefe Ernst Blochs
an Berthold Viertel, 1940–1946, 69.2191/1–3, K37, A : Viertel, DLA).
56 BV, Aus dem deutschen Heldenleben, o.D., o.S., NK15, A : Viertel, DLA.
57 BV, Der nicht mehr Deutsch spricht, in : Kaiser (Hg.), Viertel, Das graue Tuch, 1994, 353.
58 BV, Die deutsche Sprache, in : Kaiser (Hg.), Viertel, Das graue Tuch, 1994, 177.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359