Seite - 174 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
Bild der Seite - 174 -
Text der Seite - 174 -
174 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
der Vorstadt hatte sich zum Rechtsanwalt hochgearbeitet und wurde nun, so
Viertel, zum »Musterbild des Demagogen« und zum »Heiland […] des zurück-
gedrängten kleinen Mannes«, den Abstiegsangst plagte.
Lueger stellte einen neuen professionellen Politikertypus dar, dem es gelang,
große Teile der kleinbürgerlichen Bevölkerung politisch zu aktivieren.5 Mit
wienerischem »Charme« und antisemitischer Rhetorik erreichte Lueger große
Menschenmassen und machte ab 1893 die christlichsoziale Partei zu einer we-
sentlichen politischen Kraft. Das gelang nicht zuletzt durch den Aufbau eines
gemeinsamen Feindbildes in den Jüdinnen und Juden : »Christlich war sie zu-
nächst weniger als antisemitisch«, bemerkte Viertel und »sozial« nur insofern,
als es um »den sozialen Putsch des Kleinbürgers und der Kleingewerbetreiben-
den gegen den Industrialismus« ging – »in Wahrheit die vergebliche Notwehr
einer Klasse, die nicht zum Proletariat hinuntersinken will, und nicht zum Ka-
pitalismus emporzusteigen vermag, sondern zwischen beiden zerrieben wird« :6
Es war eine Partei der Selbsthilfe und des kleinbürgerlichen Zusammenschlusses ge-
gen das Großkapital, gegen Industrie und Börse. Die Sache hatte einen gemäßigten
romantischen Einschlag, insofern als sie sich an die Bodenständigen, an den Mutter-
witz der Ungebildeten und Halbgebildeten wandte und kulturell eine Rückwärtsbe-
wegung darstellte. Das Raisonnement des Bierkrügels, des Stammtisches verkörperte
sich hier […]. Er war ein Urwiener, der schöne Karl, der die Mundart des Volkes auf
eine erhöhte Weise, und mit Schwung und Eleganz sprach. Sein Auftreten war un-
mittelbar überzeugend. Er hatte das Talent, den Gegner scheinbar gutmütig zu ver-
höhnen, zu »frozzeln«, wie ein Wiener Ausdruck das nannte, und doch die brutalen
Instinkte seiner Anhänger wachzurufen. Er säte Hass, aber mit großer Liebenswür-
digkeit. […] Lueger hatte den Wiener Spießbürger aus seiner mit Mehlspeisen gesät-
tigten Trägheit erweckt. Aber seine bewegliche Vorhut wurde von den kleinen Han-
delsangestellten, den kleinen Beamten gebildet. Es war richtig, dass das Handwerk
durch die Industrie in das Hintertreffen geriet. Es war unleugbar, dass sich eine
Umschichtung vollzog.7
Es war vor allem ein Verbalantisemitismus, der hier verbreitet und der aufgrund
einer um sich greifenden Abstiegsangst bereitwillig aufgenommen wurde.8
Doch es waren nicht nur Worte : Der »politische Sieg des Antisemitismus [war]
5 Boyer, Karl Lueger, 2010.
6 BV, Autobiographie. Österreich. Illusionen, o.D., o.S., K19, A : Viertel, DLA.
7 Ibid.; BV, Österreichische Illusionen/Der Knabe Robert Fürth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
8 BV, Der Mitschüler Hitler, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 126 ; Lichtblau (Hg.),
Als hätten wir …, 1999, 95.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359