Seite - 175 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Wien | 175
kein gewaltfreier«, wie auch Berthold Viertels Volksschulerlebnis bewies. Zu-
nehmend waren »in der Schule, auf der Straße oder im Geschäft […] Juden,
selbst Kinder und Greise, verbalen Rohheiten und sogar Überfällen ausgesetzt,
die sich in den späten 1890er-Jahren noch vermehrt[en].«9
Berthold Viertels auf 1890 datiertes Antisemitismus-Erlebnis fiel noch in
eine verhältnismäßig frühe Phase, doch es kennzeichnet bereits eine entschei-
dende Wende :10 »In der Volksschule verwundertes Hinstarren auf das sichere,
kecke Auftreten einiger Jungen aus reichem, arischen Hause,« notierte er.11
Zehn Jahre vor Viertel, um 1875 Geborene – wie etwa sein späterer »Lehrer«
Karl Kraus – waren noch in einer antisemitismusfreieren Atmosphäre aufge-
wachsen. Der 1881 geborene Stefan Zeig gab an, er habe »als Jude niemals die
geringste Hemmung oder Missachtung […] erfahren«.12 Diese Alterskohorte
thematisierte ihr »Judentum« entsprechend wenig. Im Gegensatz dazu wurden
die um 1885 Geborenen meist früh mit Zuschreibungen eines qualitativ neuen,
politischen Antisemitismus konfrontiert.
1895 unterlagen in den Wiener Gemeinderatswahlen die Liberalen erstmals
den Christlichsozialen, deren Populismus nicht nur, wie erwartet, die starke
dritte Kurie der unteren Mittelschicht (Handwerker etc.) erreicht hatte, sondern
auch – unerwartet – die zweite Kurie der Beamten und Lehrer. Lueger erlangte
die Mehrheit als Wiener Bürgermeister, doch Kaiser Franz Joseph verweigerte
dem ihm äußerst suspekten »Populisten« vorerst noch den Amtsantritt.13
»Panik« erfasste nach diesem Wahlsieg die jüdische Bevölkerung Wiens. Nun
drang der Antisemitismus wirklich »in das alltägliche Leben ein, alle Richtun-
gen, alle Strömungen trugen dazu bei.«14 Natürlich hatte es gerade im katholisch
dominierten Österreich schon seit Jahrhunderten Judenhass, religiös begründete
Vorwürfe, Alltagsantisemitismus und Neid gegeben : Die Jüdinnen und Juden
waren als »Gottesmörder« und »Hostienschänder« suspekt. Grundsätzlich aber
9 Pulzer, Peter, Spezifische Momente, in : Botz u.a. (Hg.), Eine zerstörte Kultur, 2002, 129–144, 139.
Zu den Besonderheiten der »österreichischen Variante« des Antisemitismus zählten für den Histo-
riker Peter Pulzer nicht nur sein »von Anfang an überwiegend christlich-konservativer Charakter«,
sondern auch seine relativ späte Entwicklung und die Tatsache, dass er »partei- und wahlpolitisch
gesehen, vor dem Ersten Weltkrieg einen größeren Erfolg erzielte als in irgendeinem anderen euro-
päischen Staat.«
10 Lichtblau, Albert, Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte,
in : Stern/Eichinger, Jüdische Erfahrung, 2009, 39–58.
11 BV, Tod der Lüge, 1. Tagebuchblatt am 5. Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel. DLA ; BV, Die
Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 90.
12 Zweig, Welt, 1992, 48.
13 Boyer, Culture and Poiltical Crisis in Vienna, 1981. Die männlichen Formen sind der rein männli-
chen politischen Repräsentation geschuldet.
14 Pulzer, Spezifische Momente, in : Botz u.a. (Hg.), Eine zerstörte Kultur, 2002, 129–144, 139.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359