Seite - 179 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
Bild der Seite - 179 -
Text der Seite - 179 -
Luegers
Wien | 179
Bar-Mizwah-Feier 1899 in der »Stumper-Schul«, der Vereinssynagoge des Isra-
elitischen Tempel- und Schulvereins, in der Stumpergasse 42 statt und wurde
von Rabbiner Julius Max Bach geleitet.31 Für Berthold Viertel war das der
Zeitpunkt, sich selbst »programmatisch« zum »Atheisten« zu erklären :
Bei der Bar Mizwah verfasste ich ein Dokument, welches meine Ungläubigkeit fest-
legen sollte. Die Gründe waren keineswegs tief, es war zieml[ich] gewöhnlicher Libe-
ralismus. In dieser Zeit schwärmte ich für Menschenrechte und wurde jüdischer Na-
tionalist, trat in Gegensatz zu meinem Elternhaus und zur Schule.32
Die durch den Onkel Leo[pold] Klausner angeregte Lektüre von Shakespeare,
Lessing und Heine sowie die damals aktuelle Dreyfus-Affäre und der »Ritual-
mordprozess« gegen den jüdischen Schuster Leopold Hilsner sollen den Aus-
schlag zur Abkehr von Gott gegeben haben.33 Auch seinem jüngeren Freund,
Schulkollegen und »Schicksalsbruder« Alois Grünberger – der später im spani-
schen Bürgerkrieg kämpfte, ebenfalls ins Exil ging und wie Viertel nach Öster-
reich zurückkehrte
– »entgöttlicht[e]« er in Folge auf gemeinsamen Schulwegen
die Welt.34
Berthold Viertel hielt als Agnostiker Zeit seines Erwachsenenlebens Distanz
zum praktizierten jüdischen Glauben, war jedoch niemals religiös indifferent
und lebte seine jüdische Identität (mit katholischen Einflüssen). In seinen Brie-
fen sprach Viertel immer recht selbstverständlich von Gott : »[…] was wir durch
Gottes unbegreifliche Gnade doch sind und haben ! So spricht ein Atheist, ein
Mensch, der seinen Schutzheiligen nicht kennt und ihm daher auch keine Kerze
stiftet.«35 Die Worte »Gott segne Dich !« durchzogen seine Korrespondenz –
kein Jahr und kaum ein nahestehender Mensch, dem er sie nicht geschrieben
hätte. Biblische Stoffe regten ihn als Autor an und dabei faszinierten ihn vor
allem kritische jüdische Traditionslinien. 36
31 Julius Max Bach an BV, 23.
Jänner 1934, 69.2144, K36, A : Viertel, DLA.
32 BV, Tod der Lüge, 1. Tagebuchblatt am 5. Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel, DLA. Zu Viertels
»jüdischem« Nationalismus vgl. »Mitschüler Hitler«.
33 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 76 ; BV, Österreichi-
sche Illusionen/Der Knabe Robert Fürth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
34 BV, Die Septima, o.D., o.S., NK09, A : Viertel, DLA ; BV, Goldfinger, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.),
Viertel, Cherub, 1990, 71–72.
35 BV an Maria Kramer, o.D. [um 1952], Konvolut im Privatbesitz Eckart Früh.
36 Noah in der Wüste, Angst in Israel, die Geschichte des Propheten Samuel und seiner Söhne und Joseph und
seine Brüder (ein Drehbuch nach Thomas Manns Roman) waren Entwürfe, die in der Mappe Bib-
lische Dichtungen in seinem Nachlass versammelt sind, jedoch nicht publiziert wurden (BV, Mappe
XXVII Biblische Dichtungen, o.D., o.S., NK09, A : Viertel, DLA). Vor allem die Geschichte Ab-
rahams wurde Viertel zu einem »Emigrantenmärchen«, das er oft erzählte (u.a. Abrahams Streitfall,
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359