Seite - 181 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Luegers
Wien | 181
Solcherart »antisemitische« Kulturkritik übten u. a. Karl Kraus und sein Kreis,
Otto Weininger, Otto Bauer, die Arbeiter-Zeitung und eben auch Berthold Vier-
tel. – »For better or worse, all Viennese understood the coding of the categories
›Jewish‹ and ›Non-Jewish‹, although ›membership‹ in either could differ widely
depending on one’s point of view.«42 Karl Lueger als dem Demagogen des politi-
schen Antisemitismus wurde der Ausspruch zugeschrieben : »Wer ein Jud’ ist,
bestimme ich.« In gewisser Weise nahm ganz Wien – inklusive der Jüdinnen und
Juden Wiens – solche Freiheit der Zuschreibung für sich in Anspruch.
Wie aber ging eine Person, die solche Zuschreibungen des »Jüdischen« schon
von frühester Kindheit an erlebte, damit um ? Vor allem, wenn solche Zuschrei-
bungen zunehmend rassistisch zementiert wurden ? Eine mögliche Reaktion
(und auch die Berthold Viertels) war eine starke Identifikation mit der histori-
schen Erfahrung der Verfolgung und gelebte »Solidarität zum Judentum« auch
als nichtpraktizierender Jude.43 Abseits zionistischer und nationalistischer
Gruppierungen gab es vor dem Ersten Weltkrieg keine solidarischen Reaktio-
nen auf antisemitische Angriffe. Die jüdische Bevölkerung Wiens wusste sich in
einer viel unsichereren Position als die übrigen »im gesellschaftlichen Rahmen
fest verankerten« WienerInnen. Gerade das machte sie »empfindlicher für die
Spannungen und den Druck infolge des Verfalls der alten Ordnung«, aber auch
aufgeschlossener »für alles Neue«, wie Oskar Kokoschka meinte.44 Zu ähnlichen
Schlüssen kam Berthold Viertel, der eine ständige Auseinandersetzung mit den
Zuschreibungen von außen annahm und ein darauf basierendes »jüdisches Mi-
noritätsbewusstsein« diagnostizierte :
Auch heute noch bin ich der Meinung, dass schöpferische Geister, wie Karl Kraus,
Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Franz Kafka, Peter Altenberg nicht zu ihrer euro-
päisch, ja österreichisch verwurzelten, für Europa und Österreich legitimen Leistung
gekommen wären, ohne ihr jüdisches Minoritätsbewusstsein und Unterbewusstsein.
Ihre »jüdische Abstammung« gab ihnen ihre häretische und soziale Vorbedingtheit,
von der sie auszugehen, auf die sie zu reflektieren hatten. […] Sie sogen ihre Situation
mit der Mutter-, oder mit der Ammenmilch ein. Sie vermehrten ihr Vorwissen in der
Schule, sie erwarben es sich aus der klassischen und aus der zeitgenössischen Literatur.
Kultur, 2002, 165–185, 179 ; Timms, Kraus, 2005, 258. »Historische Differenzierungen müssen auch
darauf achten, dass der Antijudaismus und der Antisemitismus in Österreich zwar als ›kultureller
Codes‹ (Shulamit Volkov) gelten müssen, der speziell antisemitische Diskurs jedoch nicht immer
wörtlich zu nehmen ist […].« (Hanisch, Illusionist, 2011, 40–41)
42 Maderthaner/Silverman, Wiener Kreise, in : Holmes/Silverman (Hg.), Interwar Vienna, 2009, 59–
80, 62.
43 Hanisch, Illusionist, 2011, 52–53.
44 Kokoschka, Mein Leben, 2008, 70–71.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359