Seite - 188 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Moderne
fremderen Fremde ausgesetzt fanden, ihres Heims, ihrer Eltern, ja ihrer Identität be-
raubt und den grausamsten, barbarischsten Menschenfeinden ausgeliefert.18
Berthold Viertel gab offen seine »Anziehung, ja, Bezauberung« angesichts dieser
rassischen Kategorien zu und ergänzte in einer anderen (früheren ?) Version der
Geschichte : »Wie stolz ist der Knabe, dass er zur kaukasischen Rasse gehört.«19
Noch wurden solche Ordnungsschemata – die aus einer »rückwärtsgewand-
ten Sehnsucht« nach der »vormodernen Authentizität« einer heilen Welt
entstan den, die durch ihren »naturwissenschaftlichen Impetus« und in ihrem
»Glau ben an die Vermessbarkeit der Welt« aber auch »zentrale Forderungen der
Moderne nach Ordnung und Klarheit« erfüllten – kaum als problematisch
wahrgenommen.20 Noch waren in Österreich Blut und Boden »nicht miteinan-
der verquickt«21. Noch verwendeten Ludwig Wittgenstein, Karl Kraus, Otto
Bauer, Virginia Woolf und eben auch Berthold Viertel Begriffe wie »Rasse«,
»Arier« und »Blutmischung« als Standardtermini.22 Es war modern, sich fürs
»Exotische« und für »fremde Rassen« zu begeistern, die als »reiner«, »edler« und
»natürlicher« eingestuft wurden. Für Berthold Viertel illustrierte besonders
seine »uneingeschränkte Verehrung« des Dichters Knut Hamsun die Anziehungs-
kraft, die irrational-romantische Vorstellungen vom »Primitiven« und einer
»Rückkehr zur Natur« auf ihn ausgeübt hatten :
Ich habe keineswegs vergessen, wie sehr ich den Dichter Hamsun in meiner Jugend
geliebt habe. […] Aber unglücklich-glücklicher Weise haben wir alle seither einiges
dazugelernt. Und etwas davon hätten wir schon damals wissen müssen […]. Damals
haben wir ĂĽber manche seiner Zeilen wissentlich hinweggelesen und uns dadurch
mitschuldig gemacht. […] Gar so neu war das alles nicht. Seit der industriellen Re-
volution haben sich die Dichter gegen die Mechanisierung des Lebens gewehrt, die
menschlich und sozial nicht bewältigt war. […] Vor allem aber entdeckte [Hamsun]
[…] den Urwald in der Menschenseele, das Irrationale […] in der Menschennatur, ein
noch nicht ausgerodetes und zivilisiertes Dickicht, das tatsächlich der Welt noch viel
zu schaffen machen sollte.23
18 BV, Menschenrassen, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 50–51.
19 BV, Autobiographie. Ă–sterreich. Illusionen, o.D., o.S., K19, A : Viertel, DLA.
20 Kernmayer u.a., AssimilationÂ
– DissimilationÂ
– Transkulturation, in : Csáky u.a. (Hg.), Kultur, 2004,
291–322, 294.
21 BV, Der MitschĂĽler Hitler, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 127.
22 Lichtblau, Integration, in : Brugger/Keil u.a. (Hg.), Geschichte der Juden, 2006, 447–566, 472.
23 BV, Der Angeklagte Knut Hamsun, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwindung, 1989, 215–
219, 216–217.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359