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Mitschüler
Hitler | 193
die Rolle der »Juden«, deren Einordnung als »geschichtslose« Nation er später
als paradox empfand.44 Oder er war eben Trojaner :
Später hätte ich das wohl einen zur Geltung gebrachten Inferioritätskomplex genannt.
Fast hätte ich […] im Unterbewusstsein versperrt die Tatsache gehalten, dass ein ge-
wisser Typus Knabe sich immer nur als ›Germane‹ brüstete. Schon damals sah ich in
ihnen den unerbittlichen Todfeind, während der Name ›Deutscher‹ eine durchaus zu
genehmigende Spielart bezeichnete.45
In einem anderen Text ergänzte Berthold Viertel, dass derjenige, der sich als
»Germane« ausschreiben ließ, dies »dem Dr. Schönerer zuliebe« getan habe und
erklärte nochmals : »Den Juden, der mit Starrsinn einer sein und bleiben will,
hätte es damals ohne den Dr. Lueger überhaupt noch nicht gegeben.«46 Er be-
schloss also früh, sich mit Minderheiten zu identifizieren – »das war gut für
dich«, lässt Viertel sich selbst als »Alten« zum »Knaben« Berthold sagen, mit
dem er in späten Textstufen des autobiografischen Projekts manchmal in Dialog
trat.47 Bemerkenswert ist in diesem Kontext ein Blick auf die konfessionelle
Zusammensetzung von Viertels Klasse :48 Bei seinem Schuleintritt 1895 zählte
die Klasse 52 Schüler – davon bekannten sich 22 Schüler zum römisch-katholi-
schen Glauben, 6 zum evangelischen und 19 zum mosaischen. Drei Jahre später
(1898) waren es insgesamt nur noch 27 Schüler, davon waren 9 römisch-katho-
lisch, 7 evangelisch und 10 mosaisch. 1900, als Viertel die vierte Klasse wieder-
holen musste, gab es in seiner neuen Klasse 18 römisch-katholische Schüler, 2
evangelische und 17 »israelitische«, wie es nun hieß.49 Addiert man die römisch-
katholischen und evangelischen Schüler als »Christen«, sind diese zwar immer
in der Mehrheit, aber nie deutlich. Nicht berücksichtigt sind in dieser Zählung
Schüler aus vormals jüdischen Familien, die zum Katholizismus oder Protestan-
tismus übergetreten waren – wie etwa Victor Adlers Söhne. Adler wollte durch
diesen Übertritt seinen Kindern »die Lostrennung vom Judentum gründlicher
und leichter […] machen und ihnen die blödsinnigen Scherereien […] ersparen,
44 Sie wurden ihm zum »posthistorischen Volk« schlechthin, durch ihre historische Erfahrung mehr
noch als durch ihre Religion geprägt (BV, Der posthistorische Mensch/Der Schmelztiegel, o.D., 73,
K12, A : Viertel, DLA).
45 BV, Die mir begegnet sind, o.D., o.S., NK17, A : Viertel, DLA.
46 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 90–91.
47 Ibid., 90.
48 Vgl. Beller, Wien, 1993, 53–81.
49 Jahresberichte Bundesgymnasium Wien 6 : Amerling Gymnasium, 1893–1905, Sign.: 766A, WBR.
Abseits dieser drei Hauptrichtungen gab es noch Schüler ohne Bekenntnis bzw. ganz anderer religi-
öser Zugehörigkeit.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359