Seite - 198 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
Bild der Seite - 198 -
Text der Seite - 198 -
 
198  | Erinnerungsorte 
der 
Wiener 
Moderne
und staatliches Gymnasium. Als ehemaliges »Staats-Real- und Obergymna-
sium« hatte der Umwandlungsprozess nach einem Ministerialerlass vom
13. Juni 1894 begonnen, nachdem »die Zahl der Realschüler immer mehr abge-
nommen hatte«, und trug wahrscheinlich auch bei den Schülern zu einer ver-
stärkten Sensibilisierung im Hinblick auf die Gegensätze zwischen humanisti-
schen Gymnasien und praxisbezogenen Realschulen bei, die damals heftig
diskutiert wurden.12 Victor Adlers ältester Sohn Friedrich absolvierte von 1890
bis 1898 noch die »reale Richtung« der Mariahilfer Schule, da sich sein Vater für
ihn »eine möglichst praxisbezogene Berufslaufbahn, am ehesten eine technische
wünschte.«13 Ein Abschluss an einer Realschule berechtigte allerdings nicht
zum Studium an einer Wiener Universität und wäre für Berthold Viertel, der
Mathematik und Physik durchwegs schlechte Noten hatte, wahrscheinlich noch
problematischer geworden. In den Jahren von Viertels Schulbesuch waren im-
mer noch Realschul-Klassen am Mariahilfer Gymnasium präsent. Der Konflikt
zwischen ihnen und den Gymnasiasten, die sich als Elite fĂĽhlten, wurde inner-
halb der Schule unterdrückt, aber er wurde in »Straßenschlachten […] mit Li-
neal und Turnschuhriemen und Modellierkitt« – auch gegen die Realschule
Marchettigasse 3 – ausgetragen : »Die Realschüler, ›Rattler‹ genannt, lieferten
uns Gymnasiasten, den ›Gimpeln‹, erbitterte Kämpfe […]. […] dem dekaden-
ten EinfluĂź der hellenischen und lateinischen Literatur entzogen, stellten [sie]
noch mehr, noch prächtigere Hinterhubers und Unter grubers.«14 Diese Straßen-
schlachten an sich hätten aber einen Schüler überhaupt »viel besser für die Zu-
kunft [ge]übt […] und erzogen«15 als der reguläre Stundenplan.
Es wird deutlich, dass Berthold Viertel – während der Volksschule noch voll
von »tiefe[m], zitternde[m] Respekt« – spätestens ab der vierten Klasse
(1898/99) kein guter und vor allem kein angepasster Schüler war. »Pubertät und
moderne Literatur. Ein Verfall«16, schrieb er, denn »gefährliche« Anregungen für
»zurückgestauten Wissensdurst« verschaffte er sich wie viele andere beim »Le-
sen unter der Bank«17. Die »moderne Literatur«, die unter den Schulbänken der
Gymnasien so »verheerenden« Einfluss auf bürgerliche Knaben ausübte und sie
12 Binn, Max : Geschichte des Mariahilfer Gymnasiums : Beiträge zur Geschichte seines Hauses, des
alten Palastes der Kaunitz und Esterhazy (1914), Sign.: B 59119, DS, WBR, 12–13 ; Engelbrecht,
Bildungswesen, 1986, 155–164.
13 Ardelt, Rudolf G., Friedrich Adler. Probleme einer Persönlichkeitsentwicklung um die Jahrhundert-
wende, Wien 1984, 57.
14 BV, Verleumdung der Nazis, o.D., o.S., NK10, A : Viertel, DLA ; siehe »Mitschüler Hitler«.
15 BV, Heimkehr nach Europa, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 277.
16 BV, Tod der LĂĽge, 1. Tagebuchblatt am 5. Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel, DLA.
17 Zweig, Welt, 1993, 53–55.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359