Seite - 200 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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1899/1900 war zugleich das Jahr, in dem Viertel seinen prägendsten Einflüs-
sen begegnete : »Als ich die Schule schwänzte fand ich meine Lehrer […].«24
Der nur wenig ältere Bankbeamte Max Werter (1880–1960) war der erste, der
Viertel in seinem »Kulturanarchismus« bestärkte. Er hatte kürzlich in die Fami-
lie eingeheiratet und galt als »Sonderling« :
Seit einiger Zeit waren die beiden ungleichen Freunde, der Quartaner und der Bank-
beamte, […] unzertrennlich. Max hatte keine Gymnasialbildung genossen, aber be-
fand sich literarisch auf dem laufenden […], war ein Wiener Spaziergänger, wie es sie
damals noch gab : er nahm an allem teil, was sich ereignete, aber nur als AuĂźenseiter,
als ein Beobachter, der sich in nichts einmischte […]. Dem Spaziergänger handelte es
sich nicht um eine Diagnose. Trotzdem war er auch ein Lehrer, einer der inoffziellen
[…]. Max’ Freude an der abwechselnden Buntheit des Lebens und seiner Typen hatte
freilich kein soziales Vorzeichen, keine historische Richtung. Oder er wollte, dass sein
Schüler auf solche Dinge von selbst käme.25
Max Werter führte den 14-jährigen Berthold in Wiens Gärten und Parks, auf
die Rennplätze und in die Nachtcafés, zum Korso am Graben und in den
Volksprater, auf aristokratische Wohltätigkeitsfeste ebenso wie zu den ersten
Maiaufmärschen der österreichischen Sozialdemokratie – also in sehr unter-
schiedliche, von der bildungsbĂĽrgerlichen Welt weit entfernte Milieus, die
Viertels Phantasie anregten.26 Viertels Eltern lehnten den »unbedeutenden
Bankbeamten […], der nicht höherstrebte«, sondern lieber »herumstrawanzte«,
als »Verführer« ihres Sohnes heftig ab. Werter, der die Zeit des Nationalsozialis-
mus als sogenanntes U-Boot in Wien überlebte,27 meinte später, dass Viertel
eher auf ihn Einfluss genommen habe als umgekehrt :
Berthold war […] ein Enfant terrible, wie es im Buche steht […]. Seine Frühreife war
erstaunlich und gab zu ernsten Bedenken AnlaĂź. Niemand und nichts war imstande,
ihn davon abzuhalten, seinen eigenen, oft sehr wunderlichen Weg zu gehen. […] Sein
Wesen war längst geformt, ehe wir uns trafen. […] Durch [ihn] […] sah ich die Werte
meiner mĂĽhselig aufgebauten bĂĽrgerlichen Existenz ernstlich in Frage gestellt, mein
ganzes Dasein in eine neue, bisher nicht geahnte Richtung gelenkt.28
24 BV, Die Lehrer, in : Kaiser/Roessler/Bolbecher (Hg.), Viertel, Graues Tuch, 1994, 133.
25 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 113–123.
26 Csáky, Gedächtnis der Städte, 2010, 208–217 ; Hödl (Hg.), Populärkultur, 2013.
27 Am 28.Â
Juni 1946 veröffentlichte der Aufbau in der »11. Liste der Juden, die in Wien während der
Besatzung gelebt haben« Max Werters Namen und Geburtsdatum.
28 Werter, Max, Der Kamerad in : Neues Ă–sterreich, 28.11.1954. Werter reagierte hier auf einen post-
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359