Seite - 201 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Jugendliche
Kulturanarchisten | 201
Wie immer sich die gegenseitige Beeinflussung gestaltete, schon 1906 hielt
Viertel fest, dass er Max Werter als »beruhigenden Einfluss« und »hellen Mo-
ment« in den verworrenen Zuständen seiner Pubertät empfand und ihm über-
dies entscheidende Entdeckungen verdanke :29 Es begann offenbar mit dem
»leidenschaftlichen, allzuhäufigen Theaterbesuch«30. Von der vierten Galerie des
Burgtheaters aus entdeckten damals viele junge WienerInnen das Theater als
Beruf oder »Berufung«. Berthold Viertel sah dort die »verewigten Großen« :
Adolf von Sonnenthal, Josef Lewinsky, Stella Hohenfels und Josef Kainz
– »sehr
viel Kainz«.31 Was ihn aber noch mehr beeindruckte als das »alte Burgtheater«,
waren die »Gastspiele der Berliner« in den späten 1890er-Jahren : »[Otto]
Brahm brachte seinen Ibsen-Zyklus und revolutionierende Werke von Gerhart
Hauptmann, […] er brachte einen neuen Typus der Bühnengestaltung und der
Schauspielerei, mit einem Wort den leibhaftigen Naturalismus.«32 Bald danach
dürfte das Burgtheater – das Stefan Zweig als Inbegriff von Hochkultur ver-
ehrte33 – kaum mehr interessant gewesen sein, dafür berichtete Viertel von Be-
suchen im Deutschen Volkstheater, im Raimundtheater und an anderen kleine-
ren Bühnen.
Um 1898 brachte Max Werter das 1897 erschienene Buch Ashantée des Dich-
ters Peter Altenberg mit und erwies Berthold Viertel damit »eine Wohltat […]
für’s ganze Leben« :
Jeder Mensch sein eigener Dichter. […] Das war für Peter Altenberg die Mission.
Jedem Menschen das Geheimnis verraten, […] wie dem modernen Leben immer und
überall Schönheit zu entlocken wäre, für den sofortigen Privatgebrauch. Welch ein
Altruistenplan ! […] Den Kultus des Augenblicks in moderne Herzen pflanzen, die
keine Zeit haben, geschweige denn einen Augenblick.34
In gewisser Weile war Peter Altenberg als »bockiges Kind der Moderne« auf der
Suche nach neuen Lebensformen die Wiener Verkörperung von »Kultur anar-
chis mus«.35 Die »moderne Haltung« dieses »Sohnes« aus bürgerlichem Eltern-
hum publizierten Text Viertels : Onkel Max und der Quartaner, in : Neues Österreich, o.D. [Oktober
1954], o.S., K21, A :Viertel, DLA.
29 BV, Tod der Lüge, 1. Tagebuchblatt am 5. Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel, DLA.
30 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 119.
31 BV, Konzepte in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 292–297 ; BV, Das Burgtheater, in :
Heidenreich (Hg.), Berthold Viertel Schriften, 1970, 235–237.
32 Ibid. und : Werter, Der Kamerad in : Neues Österreich, 28.11.1954.
33 Zweig, Welt, 1992, 29–35.
34 BV, Erinnerung an Peter Altenberg, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 131.
35 Ganahl, Karl Kraus, 2015, 116 und 122.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359