Seite - 206 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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206 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
auch in Zygmundt »Dusko« Steuermann, seinem zukünftigen Schwager, ken-
nenlernen, dessen Familie kaum Verständnis für diesen Karriereweg aufbrachte,
obwohl Fußball inzwischen zu einer Massenunterhaltung geworden war.61
Berthold Viertel sah sich also als einen »guten Sportler«, jedoch nicht als Tän-
zer – das »Gesellschaftliche« der Tanzschulen »verachtete« er. Er besuchte aller-
dings gerne Bälle und beobachtete tanzende Paare.
Jedenfalls im Rückblick fand Viertel alles, was er tat, »charakteristisch« für
»seine Klasse und seine Generation« – auch als »jugendlicher Kulturanarchist«
sei er »innerhalb kleinbürgerlicher Grenzen« verblieben.62 Und die einzige
Möglichkeit, diese »Grenzen« zu durchbrechen, war nach Altenbergs Anleitung
sein »eigener Dichter« zu werden : Dabei streifte der »Knabe an der Grenze des
Mannwerdens« durch Wien und : »fraß das Verhalten der Mitlebenden in sich
hinein, versuchte zu erraten, was sie fühlten, dachten«63. Notizbücher und Zettel
begannen sich mit Aufzeichnungen zu füllen :
Literarische Produktion hat inzwischen, in gräulicher Verflachung über Heine den
Weg zur Nachahmung moderner D.[ichtung] gemacht. Sie stockt. Wenige, nicht ganz
echte, gekünstelte Lyrik. Dazwischen erledigen sich dämmerhaft einzelne Probleme :
Vergänglichkeit, Tod, die eigene Hässlichkeit. Ideal der Dirne.64
»Herumstrawanzen« und dichten – zunehmend auch wenn Viertel eigentlich in
der Schule hätte sein sollen –, denn »es war eine Lust ohnegleichen in Wien
schulzustürzen«65. Seine Methoden zu schwänzen, sollen bei den Schulkollegen
als vorbildlich gegolten haben.66
Im Kreis seiner Schulkollegen fühlte sich Viertel, nachdem er die vierte
Klasse wiederholen musste, zunehmend als »Ausgestoßener«, von den »norma-
len, anständigen« Schülern abgesondert. Seine Verweigerung des schulischen
Gehorsams nahm weiter zu und immer wieder wurde er ins Klassenbuch einge-
tragen : »Viertel lacht« soll ein solcher Eintrag gelautet haben.67
tive jüdische Identitäten im Wiener Fußball der Zwischenkriegszeit. Das Beispiel des Sportklubs
Rapid, in : Hödl (Hg.), Populärkultur, 2013, 63–80).
61 Viertel, Das unbelehrbare Herz, 1970, 161 ; Urban, Thomas, Schwarzer Adler, weißer Adler. Deut-
sche und polnische Fußballer im Räderwerk der Politik, Göttingen 2011, 97–101.
62 BV, o.T. [2.], in : Arbeits-/Notizheft 1947, 69.3142/38, K24, A : Viertel, DLA.
63 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 118.
64 BV, Tod der Lüge, 1. Tagebuchblatt am 5. Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel, DLA.
65 BV, Heimkehr nach Europa, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 277.
66 Werter, Der Kamerad, in : Neues Österreich, 28.11.1954.
67 BV, Die Septima, o.D., o.S., NK09, A : Viertel, DLA. Ein anderes Mal musste er als kalligrafische
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359