Seite - 210 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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schaft und empfand sich dabei als Kind seiner Zeit : »[…] [E]s war die Epoche
[…] des anarchischen Nihilismus der westlichen Literatur. […] Der Lust-
Mörder stand uns höher als der Unlust-Bürger. (Und die Hure […] näher als die
Jungfrau). Es war, typischer Weise, eine Gesinnung, die dem ersten Weltkrieg
unmittelbar voranging.«10 Im Rückblick empfand er seinen »Anarchismus« als
»sozialen Infantilismus, eine blinde Reaktion auf […] eine verlogene Gemein-
schaft der Familie, der Schule, der gesellschaftlichen Klasse, der auf betrĂĽgeri-
sche Illusion aufgebauten Wiener Welt.«11
In Karl Adler fand Berthold Viertel nun aber einen, der zu ähnlichen Schlüs-
sen gekommen warÂ
– »es war eine Zeit, wo wir beide das gleiche wĂĽnschten«12Â
–,
obwohl Adler aus einer völlig anderen Welt kam, aus der Welt der Wiener So-
zialdemokratie.
Der groĂźbĂĽrgerlich etablierten Familie Victor Adlers, die alles andere als bĂĽr-
gerlich sein wollte, ging es nicht um sozialen Aufstieg. Im Gegensatz zur Fami-
lie Viertel wollten die Adlers nicht ihre materielle Lage, sondern die Welt um
sich verbessern. 1885, im Geburtsjahr seines zweiten Sohnes Karl, hatte sich
Victor Adler bereits ganz der internationalen Arbeiterbewegung, dem Aufbau
der sozialdemokratischen Partei in Ă–sterreich und der Durchsetzung des allge-
meinen Wahlrechts verschrieben. 1900 hatte er bereits viel erreicht : Er hatte
radikale AnarchistInnen und gemäßigte SozialreformerInnen zu einer Partei
vereinigt, die massenwirksam werden konnte. Er hatte die Zweite Internationale
mitbegrĂĽndet und am 1.Â
Mai 1890Â
– nunmehr internationaler ArbeiterfeiertagÂ
–
die ArbeiterInnen Wiens erstmals geordnet in Bewegung gesetzt. Zudem hatte
er 1889 die Arbeiter-Zeitung als sozialistisches Zentralorgan begrĂĽndet.13
Bei den Viertels wurde »manches Mittagessen« durch die Debatten um den
Maiaufmarsch »gestört«14. Ein Mann wie Adler, der für seine Überzeugungen
im Gefängnis saß, und nicht nur viel Arbeit, sondern auch sein Privatvermögen
in die Arbeiterbewegung steckte, war den Eltern suspekt. Auf Berthold Viertel
jedoch machte die persönliche Bekanntschaft mit Doktor Adler großen Ein-
druck und so beschrieb er jedenfalls im Rückblick Victor Adler als einen »der
grössten Österreicher dieser Zeit« und »wahrhaft anständigen Menschen«15.
10 BV, o.T. [Donnerstag], in : Tagebuch, November 1939, 69.3142/21, NK23, A : Viertel, DLA.
11 Ibid.
12 Karl Adler an BV, 2. Mai 1924, 80.1.424/1, A : Viertel, Salka, DLA.
13 Vgl. Rabinbach, Anson, Politik und Bildung in der österreichischen Sozialdemokratie 1867–
1927, in : Archiv. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien 1998, 7–36 ;
Braunthal, Victor und Friedrich Adler, 1965, 42–79.
14 BV, Konvolut Autobiographie. Ă–sterreichische Illusionen (3 Hefte), o.D., o.S., K19, A : Viertel,
DLA.
15 BV, Ă–sterreichische Illusionen/Der Knabe Robert FĂĽrth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359