Seite - 222 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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lich gut, denn er schloss in Deutsch, Latein, Griechisch, Geschichte und Geo-
grafie sowie Physik und Chemie jeweils mit »gut« bis »sehr gut« ab.74
Berthold Viertels Freundschaft mit Karl Adler, der schlieĂźlich in Bern matu-
rierte, verlor schon bald nach seiner RĂĽckkehr nach Wien an Bedeutung und
nur drei Jahre später blickte er auf diese Freundschaft bereits als etwas Gewese-
nes zurück : Karl Adler war der erste Mensch, den er »leidenschaftlich – wenn
auch ohne bewusste sexuelle Regung« – geliebt habe. Zum ersten Mal habe er
ein menschliches Wesen »zum Götzen erhöht« und sich selbst »versklavt«.75 Es
folgten in Viertels Leben noch viele derartige Freundschaftsbeziehungen, ĂĽber
die Salka Viertel bemerkte : »Berthold verliebte sich in Menschen, schloss sie in
sein Herz, stellte sie auf ein Piedestal […].« Solange bis eben nach dem Rausch
die ErnĂĽchterung kam.76 ErnĂĽchtert kritisierte Viertel Karls Altenbergsche
»Mission«, an die er einst auch geglaubt hatte, und den »Don Quijote-Charak-
ter« seines Freundes :
Karl A[dler], wunderschön und – ein wenig Narr. Er ist eitel und sehr stolz, und ein
groĂźer Aristokrat auf Rechnung seines Vaters. Seinen Vater glaubt er berufen, die
Welt zu erlösen, […] er selbst aber [sieht sich als] eine Art von göttlichem Entwurf
des idealen Menschen. Ich weiĂź nicht, ob er das ernstlich glaubt, ob er es nur den
anderen einreden will, oder ob da bereits veritabler Irrsinn wirkt. Tatsche ist, dass er
vollkommen haltlos dahinschwankt, niemals im Gleichgewichte des Gewissens, von
fortwährender Angst gejagt, von nervösen Schmerzen und Unlustgefühlen gefoltert.
Er arbeitet nicht, lernt nicht, liest nicht, sondern hastig betäubt er sich mit albernen,
kleinlichen, hässlichen Vergnügungen, […], Genuss von Alkohol, und ruiniert auf
diese Weise seinen schönen Körper und seinen stolzen Geist. Er erweckt allseits äu-
ßerliche Sympathien, aber wenig tiefe Liebe […]. Vielleicht hat diesen äußerlich
schönen, zart fühlenden, aber intellektuell und seelisch schwächlichen Menschen die
Ausnahmestellung des Vaters im Beginn der Jugend in Bewegung versetzt […]. Die-
ses schöne Kind, das krank und schwach, auf der Jagd nach Schmetterlingen, in sein
Verderben eilt, indessen aber im Wahne höchster Würden schwelgt […] – eine rüh-
rende Gestalt. Man könnte sagen : er sei das Kind seines Vaters mit der Utopie.77
Noch war Berthold Viertel sich nicht sicher, ob bei Karl Adler »bereits veritab-
ler Irrsinn« wirkte. Mehr als vierzig Jahre später – da war Karl Adler bereits
tot – meinte er bestimmter : »Er war ein Grenzfall dessen, was man heute Schi-
74 BV, Maturitätszeugnis, K21, A : Viertel, DLA.
75 BV, Tod der LĂĽge, 1. Tagebuchblatt am 5. Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel, DLA.
76 Viertel, Das unbelehrbare Herz, 1979, 114.
77 BV, Tod der LĂĽge, 1. Tagebuchblatt am 5. Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel. DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359