Seite - 226 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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226 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
Ich hatte es insofern leicht, als ich nie einer Partei als Mitglied angehört habe und nie
im Leben einen Stimmzettel abgegeben habe. […] Daß ich den Sozialismus für die
Rettung Deutschlands und die Verhinderung Hitlers und des Weltkrieges gehalten
habe […], verhehle ich nicht. Befragt über Russland, antwortete ich, daß die Demo-
kratie das Ziel der dortigen Verfassung ist (wenn es auch noch [nicht] erreicht wurde) ;
im Gegensatz zum Nationalsozialismus und zum Fascism überhaupt. Auch gab ich
meinem Glauben Ausdruck, daß die Kollektiv-Formen des Lebens für den Osten die
natürlichen sind. Die amerikanische Konstitution (im Sinne Lincolns) erklärte ich für
ein Bollwerk des Westens, das verteidigt und vor dem fascistischen Ansturm gerettet
werden müsste. Als den amerikanischen Ausdruck der Demokratie nannte ich Walt
Whitman. An eine ›Revolution‹ in Amerika erklärte ich absolut nicht zu glauben
(außer wir verlieren den Krieg.) (Ich konnte nicht sagen, daß ich die revolutionäre
Drohung hier in der Sabotage von rechts erblicke, die schon jetzt die gefährlichste
Wirkung ausübt. Immerhin betonte ich die plutokratische ›menace‹ für die Entwick-
lung der Demokratie.) Sozialismus in der Art von Landauer, oder, auf der anderen
Seite, der Luxemburg (die Formen, die mir geistig nahestehen) kennen die Leute hier
nicht. ›Kommunism‹ ist identisch mit der Partei, die heute diesen Namen führt, also
mit Bolschewismus. Sie könnten schon einen Menschen wie Brecht nicht einreihen,
der kein Eidbrecher wäre, wenn er schwüre, er sei kein Kommunist. Ich konnte völlig
wahrheitsgemäß zu Protokoll geben, daß ich mich in Amerika (und auch in Deutsch-
land) nicht politisch betätigt habe, schon weil ich mich in beiden Ländern als Gast
betrachtete (bis ich das Bürgerrecht habe).«94
Hier wird eine gewisse Naivität von Berthold Viertels politischen Vorstellungen
deutlich. Das FBI stufte ihn jedenfalls als Kommunismus-Sympathisanten ein
und untersuchte beziehungsweise überwachte ihn fortan als solchen.95 Auch im
Nachkriegsösterreich stand Viertel permanent unter Kommunismus-Verdacht,
was sogar im Ministerrat zur Sprache kam96 – er wurde allerdings nicht von
staatlicher Seite überwacht. Auch wenn »von Stalinismus« bei ihm »ohnehin
keine Rede«97 sein konnte, halfen seine eigenen Definitionen bis zuletzt nicht,
die Lage zu klären : »[…] daß so viele Menschen, wie nur möglich, ein volles,
reiches Leben haben, darum geht der Kampf, das nenne ich Sozialismus.«98
94 BV an Salka Viertel, 19. Februar 1942, 78.874/5, K35, A : Viertel, DLA.
95 Stephan, FBI, 1995 ; FBI-Akt Berthold Viertel.
96 Verhandlungsschrift Nr. 307 über die Sitzung des Ministerrates am 07.10.1952 bzw. Verhandlungs-
schrift Nr. 308 über die Sitzung des Ministerrates am 14.10.1952, Kt. 99, Republik Figl II, BKA,
AdR, ÖStA.
97 BV an Salka Viertel, 11. Juli 1944, 78.877/1, K35, A : Viertel, DLA.
98 BV an Salka Viertel, o.D. [1951], 78.884/1, K35, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359