Seite - 229 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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[I]ch sollte unbedingt ein Rechtsanwalt werden […]. Dieses war das Ideal jüdischer
Väter aus dem Mittelstande, die selbst nur eine geringe Schulbildung genossen […].
Viele von ihnen […] waren in die orthodoxe hebräische Schule gegangen […]. Eine
durch Generationen vererbte Anlage zur religiösen Dialektik war dadurch gepflegt
worden. […] Sie hatten eine zwangsläufige Neigung, Rechtsfälle zu konstruieren. Das
Jus lag ihnen sozusagen im Blute, denn sie litten auch an dem geschärften Rechtssinn
einer verfolgten Minorität […]. Auch bedurften sie in ihren Geschäftshändeln immer
wieder des Zivilrechts ; doch fehlte es ihnen an Gesetzeskenntnis. Die sollte dem
Sohn zuteil werden und ihm erst zur vollen Gleichberechtigung verhelfen.4
Ein Universitätsstudium war auch aufgrund der bereits erfolgten Ausbildungs-
investitionen der klar vorgegebene Weg. Es war nicht nur ein Statussymbol,
denn tatsächlich gab es um 1900 ständig steigenden Bedarf an Personen mit
höheren Qualifikationen.5 Schon wenige Wochen nach seiner Rückkehr inskri-
bierte Berthold Viertel sich fĂĽr das Sommersemester 1904 als ordentlicher
Hörer an der juridischen Fakultät der k.k. Universität zu Wien :6 »So bezog ich
die Universität, um zum Schein Jus zu studieren, in Wahrheit zu bummeln und
meinen sonderbaren Interessen nachzugehen.«7
Im FrĂĽhjahr 1904 geriet die Familie Viertel in eine Krise, deren Ursache
ausnahmsweise nicht der schwierige Sohn war – Salomon Viertels Lebenswerk
begann in dieser Zeit zusammenzubrechen : Als »impulsiver«, »unruhiger« und
auch »ungeduldiger« Mann, mit einem »gutem Herzen« und einem »kindlich-
naiven Charakter«, der gut vernetzt war und sich »in alles einmischte«, hatte er
es als Möbelhändler und Inhaber einer protokollierten Firma zu etwas gebracht
und einem weiteren Aufstieg der Familie schien nichts im Wege zu stehen.8 Im
Oktober 1901 hatte der Wiener Gemeinderat Salomon Viertel und seiner Fa-
milie das Heimat- und Bürgerrecht verliehen.9 Doch dann verlor er »am Beginn
4 BV, Zürich, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 148–149.
5 Schnöller, Andrea und Stekl, Hannes (Hg.), »Es war eine Welt der Geborgenheit …« : bürgerliche
Kindheit in Monarchie und Republik, Wien 1999, 40.
6 Nationalen der juridischen Fakultät, Sommersemester 1904, Archiv der Universität Wien (in Folge :
AUW).
7 BV, ZĂĽrich, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 149.
8 BV, Die sieben Jahre sind um bzw. [Marie], in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 23–
24 und 27 ; BV, Konvolut Autobiographie. Ă–sterreichische Illusionen (3 Hefte), o.D., o.S., K19, A :
Viertel, DLA.
9 Beschluss des Wiener Gemeinderats ĂĽber die Aufnahme Salomon Viertels in den Heimatverband
der Gemeinde Wien, 2.Â
Oktober 1901, Z. 25378 [Ansuchen am 5.Â
Dezember 1896], K21, A : Vier-
tel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359