Seite - 230 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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des russisch-japanischen Krieges, durch einen unglĂĽcklichen Zufall seine linke
Hand«.
Der Zufall war insofern kein Zufall gewesen, als die Hast des Vaters, die ihn veranlasst
hatte, nach dem Hut zu greifen, der ihm vor das Rad des eben verlassenen StraĂźen-
bahnzuges gerollt war, mit dem Ausbruch des Krieges in ursächlichem Zusammen-
hang stand. Er hatte rasch nach Russland gelangen wollen, um ausstehende Gelder,
die gestundete Bezahlung für exportierte Möbel, einzutreiben. Der von Ungeduld
geplagte Mann, der es immer eilig hatte […], hatte an jenem bösesten Tag seiner
Existenz triftigen Grund zur Eile. Der Export nach Russland war der ihn beglĂĽ-
ckende Erfolg seines kaufmännischen Strebens gewesen […]. Er langte an jenem Tag
statt in Moskau auf einem Wiener Operationstisch und damit am Ende seiner kĂĽh-
nen, jedoch ehrenhaften Handelsoperationen an. Die Gelder verfielen, und das väter-
liche Geschäft verfiel zunächst dem Konkurs, den er […] nie für denkbar gehalten
hätte.10
Salomon Viertel war schon vor 1904 weder ein besonders autoritärer, noch libe-
raler Vater. Berthold Viertel sprach ihn mit »Du« an. Als biologischer »Erzeu-
ger« und Eigentümer der ökonomischen Ressourcen hätte er gerne patriarcha-
lisch geherrscht und »verlangte Autorität, die er nie bekam«.11 Dass er auf den
einzigen Sohn – »von dem er nicht einmal wusste, ob er die Leistungen des
Vaters zur Kenntnis nahm« – nicht »den geringsten Einfluss« hatte, kränkte den
»ehrgeizigen und feinfühligen Mann bitter«.12 Debatten vermieden die beiden,
die sich »in allem und jedem grundverschiedener Anschauung wussten«13, zu-
nehmend. Wenn es allerdings zu Streit kam, behielt Berthold Viertel zumeist
die Oberhand : »Mit dem Vater herrschte ein dumpfer, kriegerischer Friede,
unterbrochen durch plötzliche Krachs, die der gutherzige Mann nicht durch-
stand.«14 Eine Szene, die Viertel öfter beschrieb, macht deutlich, wie sehr Salo-
mon Viertel in diesen Auseinandersetzungen an seine Grenzen kam :
Er rannte mit kurzen Schritten zum Fenster, riĂź es auf und machte Miene, sich aus
dem dritten Stock aufs Pflaster der Straße zu stürzen. Da hörte der Sohn sich sagen,
und seine Stimme klang uralt : ›Aber wozu dieses Theater ?‹ Er sah den Rücken des
10 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 79–80.
11 BV, Retrospektiv, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 197 ; Hanisch, Männlichkeiten,
2005, 289–332.
12 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 117.
13 Ibid., 73–75.
14 BV, Retrospektiv, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 197.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359