Seite - 246 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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stellen, dick und schwer geworden war.«5 Der »Unabhängigkeitskrieg«, den er
gegen sie zu fĂĽhren begann, wurde zu einem Kampf gegen die bĂĽrgerliche Se-
xualmoral und in Folge um »sexuelle Emancipation«, wobei es zuallererst um
eine Enttabuisierung des Sexuellen ging :
Einmal hatte [die Mutter] in aller Unschuld behauptet, daß […] Flöhe und Wanzen,
durch Zeugung aus dem Staube entstünden, während ihr der Sohn entgegenhielt, dass
Flöhe und Wanzen, genauso wie die Menschen, ihr Leben dem geschlechtlichen
Umgang verdankten. Als sie sich weigerte, diese Deutung als Tatsache anzuerkennen,
hob der Knabe das schwere, kostbare Porzellanservice vom Waschkasten und schwur,
er wĂĽrde das Service zerschmettern, wenn die Mutter sich nicht sofort zur Wahrheit
bekehrte.6
Während Berthold Viertel den Konflikt mit dem Vater ab seinem 19. Lebensjahr
als »stillgelegt« empfand, begleitete ihn der »böse Krieg« mit der Mutter »unab-
lässig, nervenzerrüttend« bis zu ihrem Tod 1932 : »I am a mother’s son.«7 Nur
langsam wurde ihm klar, dass das seltsam starre Leben seiner Mutter sozial und
historisch bedingt und ihr Verhalten nicht unbedingt »persönlich« gemeint war.
Sie war eine Frau, die geheiratet hatte, Kinder bekommen hatte und gestorben
war : »Und wie viele Frauen haben nicht mehr als das zu erzählen ?«, fragte er
sich später. Über seine Mutter als Geschäftsfrau wusste er – wie er selbst einge-
stehen musste – nichts.8 Er wollte zwar »Das Buch der Mutter« schreiben,9
doch im autobiografischen Projekt repräsentierte Anna Viertel letztlich die un-
aufgeklärte, bürgerliche Gegenseite der angestrebten »sexuellen Emancipation«.
Zu sagen, was nicht gesagt werden durfte – dazu war Viertel von seinen
»kritisch-modernen« Lehrern angeregt worden. Mit diesem Anliegen dokumen-
tierte er bereits um 1906 seine sexuelle Entwicklung :
Mit acht, neun Jahren geißelte ich mich, mit Lederriemen. Später hatte ich masochis-
tische Träume […]. Mit zwölf, 13 Jahren erste sexuelle Empfindungen, »das Weib«,
groĂźer Schrecken, mystische Schauder, tiefschmerzliche Abwehr. Peinliche Keusch-
heit bis 13. J.[ahr]. Irritiert von schweinischen Kollegen. […] Aus all der Zeit kein
homosexueller Eindruck, mit Ausnahme etlicher masochistischer Vorstellungen
nichts Sexuelles. […] Von der Wüstheit dieser Phantasieausschweifungen lässt sich
5 BV, [Marie], in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 21–22.
6 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 77.
7 BV, From A Life’s Story, o.D., o.S., K17, A : Viertel, DLA.
8 BV, Konvolut Autobiographie. Ă–sterreichische Illusionen (3 Hefte), o.D., o.S., K19, A : Viertel,
DLA.
9 BV, Tod der LĂĽge, 1. Tagebuchblatt am 5. Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359