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Homophobie und Misogynie, war aber zugleich antifeministisch und abwertend,
wenn er über etwa die »Idee vom Gehirn der Frau« spottete.51 »Ich bin nicht für
die Frauen, sondern gegen die Männer«, meinte er.52
Einige Kraus-ExpertInnen meinen, dass Kraus durchaus ĂĽber konservative
Dichotomien zwischen Männlich-Geistigem und Weiblich-Sinnlichem hinaus-
gekommen wäre.53 Berthold Viertel kritisierte allerdings noch Anfang 1936,
kurz vor Kraus’ Tod, dass »die Frau« für Karl Kraus niemals ein »ebenbürtiges
menschliches Wesen […] war, sondern ein Idol, ein Phantom, ein Totemtier«
verblieben sei.54 Ging er selbst nun in Sachen Geschlechtergerechtigkeit wei-
ter ?55 Noch um 1906 notierte er zum Stichwort »Frauenemanzipation« : »Wäre
es nicht immer noch wĂĽrdiger, die Sklavin des Mannes zu sein, als der Affe des
Mannes ?«56 und verwies damit (nach Darwin) auf die noch nicht vollendete
»Evolution« der Frauen. In dem wenig später mit Otto Soyka erarbeiteten Essay
zeigte sich aber schon eine andere Haltung. Hier wurde die »gegenwärtige Ge-
sellschaft« kritisiert,
[…] die auf dem Geschlechtsunterschied basiert, die Männer und Frauen heranbildet
und nicht Menschen. Längst fühlt die Frau den Fehler der Gesellschaft und kämpft
dagegen an. Sie zählt fraglos zu den Benachteiligten. Aber auch ein gewaltiger Teil
des männlichen Geschlechts ist es nicht minder als sie, alle jene, denen der Beruf zum
Menschen nähersteht als der zum Männchen.57
Warum sollte jedes Geschlecht auf die Hälfte seiner Verhaltensmöglichkeiten
und Wünsche verzichten ? Viertels moderner »Sohnesgeneration« lag es offen-
bar zunehmend nahe, sich in dieser Sache mit Frauen zu verbĂĽnden. Im FrĂĽh-
51 Kraus, Die Fackel 157 (1904), 19 ; Wagner, Geist und Geschlecht, 1982, 153–165.
52 Kraus, Die Fackel 360/362 (1912), 25.
53 Timms, Kraus, 1999, 107 ; Kouno, Performativität, 2015, 37–44 ; hier wurde auch die These vertre-
ten, dass Kraus mit der feministischen Szene und FrauenwahlrechtsaktivistInnen interagiert habe,
was allerdings bisher nicht systematisch untersucht wurde (vgl. Anderson, Vision, 1994, 31–36 und
Bührmann, Kampf, 2004,76–102).
54 BV an Ludwig MĂĽnz, 16. Februar 1936, 78.849/6, K32, A : Viertel, DLA.
55 Bisher wurde in der Forschung um Viertel vor allem festgehalten, dass Frauen und seine Beziehun-
gen in den Fragmenten des autobiografischen Projekts merkwĂĽrdig abwesend seien (Bolbecher/
Kaiser, Nachwort, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 357–368, 367) und Viertel
einem virulenten »Antifeminismus« verhaftet geblieben sei, um sich später damit »stillschweigend
[davonzumachen], wie alle anständigen Krausianer.« (Scheidt, Gerhard, Über das Geschlechtsle-
ben der blonden Bestie. Berthold Viertel und der Irrationalismus, in : Theodor-Kramer-Gesellschaft
(Hg.), Traum von der Realität, 1998, 62–75, 72).
56 BV, Tod der LĂĽge, 1. Tagebuchblatt am 5. Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel, DLA.
57 Soyka, Jenseits der Sittlichkeits-Grenze, 1906, 86.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359