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258 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
dem »zunehmend präsenten Bild beruflich erfolgreicher und emotional von
Männern unabhängiger Frauen« entwickelte.74 Ein Vorläufer dieses Modells
war die »weiße Ehe« der Viertels jedoch nicht, denn es ging eben darum, beiden
sexuelle und berufliche Unabhängigkeit zu ermöglichen.
Über den gemeinsamen Alltag des jungen Ehepaares, das in der Florianigasse
58 im 8. Bezirk gemeldet war, ist nichts bekannt, aber offenbar lebten die jungen
Viertels nicht alltäglich zusammen und auch Kinder gingen aus dieser Ehe nicht
hervor.75 In seinen autobiografischen Texten wie auch in der 1925 publizierten
Komödie Die schöne Seele kritisierte Viertel später solche idealistischen Projekte :
»Jetzt weiß ich, was das heißt : ein Idealist !«, sagt etwa die weibliche Hauptfigur
in Viertels Wiener Kaffeehauskomödie am Ende über den erotischen Aufbruch
der männlichen Intellektuellen : »Ein Egoist – nichts weiter !«76 War das Ganze
nur eine Posse in einem »Treibhaus einer Überlegenheit, die der Weltkrieg dann
liquidieren wird« ?77 So beurteilte Berthold Viertel es jedenfalls im Rückblick :
Es ist eine wahnsinnige Überhitzung in dieser Verbindung, und sie wird dem Krieg
nicht standhalten. Sie hat ihren Bankrott in sich, sobald eine Welt brutalerer Kämpfe
das Spinngewebe aller Illusionen zerreißt. Denn alle diese durch den Nihilismus auf
das Äußerste verfeinerten Menschen werden den Zusammenbruch der zu weit gestei-
gerten Zivilisation erfahren und den Einbruch einer Barbarei, die wieder an ur-
menschliche Instinkte appelliert.78
Tatsächlich verfestigte der Krieg bereits in Frage gestellte Geschlechterhierar-
chien erneut. Mythen vom kriegerischen Mann und der Frau als Trösterin ver-
wiesen beide Geschlechter wieder auf ihren jeweiligen Platz und auch die Zu-
nahme weiblicher Erwerbsarbeit konnte hier nicht gegensteuern
– im Gegenteil.79
Auch Viertel hielt nun »urmenschliche Instinkte« in seinem Kriegs tagebuch fest.
Er hatte im Zusammenhang mit Grete Viertel inzwischen doch noch andere
Sehnsüchte entdeckt, die Exklusivität beanspruchten :
74 Gehmacher, Die »moderne Frau«, in : Schwarz/Zechner (Hg.), Moderne, 2014, 152–161.
75 1913 stellte Viertel seinem ersten Gedichtband Die Spur ein Widmungsgedicht »für Grete V.« voran,
das mit den Worten beginnt : »Nachts gestern von dir heimgegangen […]« (BV, Die Spur, Weimar
1913, 5).
76 BV, Die schöne Seele, Hellerau 1925, 78.
77 BV, Österreichische Illusionen/Der Knabe Robert Fürth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
78 Ibid.
79 Thébaud, Der Erste Weltkrieg, in : Duby/Perrot, Geschichte der Frauen, 1997, 33–92 ; Bührmann,
Kampf, 2004, 232–240.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359