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270 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
parteipolitischen und programmatischen Anbindung wie auch den üblichen
Ritualen des Networkings verweigerte, wurden ihm entsprechend Exklusivität,
Selbstgerechtigkeit und vieles mehr vorgeworfen.12 Mit Kraus »befreundet« zu
sein, bedeutete, so Viertel, »mit ihm Spießruten laufen durch die Spaliere des
Hasses, der Neugierde, der Bewunderung, durch die ihn täglich sein Weg
führte«13. Problematisch war auch, dass sich sein »kritisches Wesen« »übertrug«
und »manchem, der ihm schwärmerisch nacheiferte, […] Schaden« brachte.14
Für Berthold Viertel wurde es insofern wesentlich, sich die »Harmlosigkeit des
eigenen Schaffens zu wahren« und – auch auf Kosten strenger »Reinheit« – of-
fener und toleranter zu bleiben.15 Diese Haltung Viertels bestimmte den Verlauf
der Freundschaft wie kaum etwas anderes.
Vorerst aber ließ sich Berthold Viertel aber ganz auf Kraus ein und lernte
Gedanken zu Ende zu denken, genau und konzentriert zu arbeiten, das Seinige
klar und sinnvoll zu sagen und es Wort für Wort und Satz für Satz zu verant-
worten. Karl Kraus saß nächtelang mit ihm, um seine Texte – »um jedes Wort
kämpfend« – zu verbessern.16 Am 21. März 1910 erschien Viertels erstes Ge-
dicht in der Fackel. 17
Viertel gehörte nun zum »inneren Kraus-Kreis«, wie der Dichter Albert Eh-
renstein neidvoll festhielt : »Dem Viertel telegraphiert und schreibt Kraus – er
hat vor mir den Vortritt.« Ehrensteins Briefe beantwortete Viertel als Kraus’
Assistent.18 Erhaltene Korrespondenz – während der Sommer 1910/11 und
während Viertels militärischer Übungen, also dann, wenn die beiden keinen
persönlichen Umgang hatten – belegt den intensiven Austausch.19 Karl Kraus,
der seine Sommer an der Ostsee verbrachte, lud Viertel schließlich sogar ein, zu
ihm zu stoßen. Dieser dankte für die »ganz unerhörte Liebenswürdigkeit«,
lehnte jedoch aus finanziellen Gründen die Einladung ab : »Die ganze Expedi-
tion wäre mir dennoch zu teuer. Ich kann auch nicht Vorschuss nehmen, weil ich
das Geld im Herbst voraussichtlich sehr brauchen werde. Es hätte mich natür-
12 BV, Zu Karl Kraus’ sechzigstem Geburtstag, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwindung, 1989,
19.
13 BV, Erinnerung an Karl Kraus, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 188.
14 BV, Karl Kraus, der Erzieher, o.D., o.S., K14, A : Viertel, DLA.
15 BV, Erinnerung an Karl Kraus, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 188.
16 BV, Karl Kraus, der Erzieher, o.D., o.S., K14, A : Viertel, DLA.
17 Seitdem bis zum November 1911 enthielt jede Fackel-Nummer nun Gedichte oder Rezensionen
Viertels, die Kraus auch großzügig entlohnte.
18 Tagebuch Albert Ehrenstein, zitiert nach : Laugwitz, Ehrenstein, 1987, 114.
19 BV an Karl Kraus, 5./6. Juli 1910, H.I.N. 166144/H.I.N. 166145, Teilnachlass Karl Kraus, HS,
WBR.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359