Seite - 273 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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kunst besass, einen Charme und eine Unbefangenheit, mit der er dem ›strengen, uner-
bittlichen und gefährlichen‹ Karl Kraus ohne jede Hemmung ins Wort fiel […].27
Kraus Bewunderung fĂĽr den wirklichen Dichter Viertel spielte wohl eine wesent-
liche Rolle, dass Berthold Viertel so dauerhaft eine spezielle Position bei Kraus
einnahm : »Er [Kraus] ließ sich fast alles von Viertel gefallen«28. Lyrik war, wie
Viertel es formulierte, Kraus’ »Zuflucht vor dem satirischen Befund« und er ge-
stattete wenigen Zugang zu dieser »privateren« Seite. Hier allerdings wurde erst
Kraus’ »Menschlichkeit« – seine Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Zuverlässig-
keit und sein großes Verständnis – hinter der öffentlichen Inszenierung des
Satirikers sichtbar, die Viertel immer wieder betonte.29
In seinen autobiografischen Texten ĂĽber Kraus war es Viertel selbst wichtig
zu betonen, dass er sich ein »Recht der freien Meinungsäußerung«30 gegenüber
Kraus stets vorbehalten habe und erklärte gerade das zum verbindenden Ele-
ment : »[…] [N]ichts hat mich in der Übereinstimmung mit meinem Original
so sehr gefördert wie die Entschiedenheit, mit der ich seiner Fragestellung, sei-
nem Entweder-Oder widersprochen hatte.«31
AusfĂĽhrlich beschrieb er seine kleinen und groĂźen WidersprĂĽche : Der erste
betraf Heinrich Heine, der – als »Vorschubleister der Pubertät« – Viertel mit 13
Jahren zum Dichter gemacht hatte : »Ich sehe noch die Hefte vor mir, in die ich
damals die Gedichte schrieb, wie Heine sie in mir erweckt hatte.«32 Obwohl er
sich später für diese Nachahmungen schämte, hatte Heine doch etwas in ihm
berührt, das es zu verteidigen galt, als Karl Kraus durch eine »Erledigung« Hei-
nes seine Neupositionierung als KĂĽnstler und Satiriker vornahm.33 Kraus trug
die später unter dem Titel Heine und die Folgen publizierte Polemik am 3. Mai
1910 erstmals vor. Viertel war dabei und meldete direkt nach der Vorlesung
Widerspruch an :
Darauf lud mich Karl Kraus in seine Wohnung ein und lieĂź mich dort mit dem Ma-
nuskript allein. Nach einer Stunde kam er zurĂĽck und nun hatte ich meinen Wider-
27 Heinrich Fischer 1961, in : Pfäfflin (Hg.), Nähe, 2008, 129.
28 Ibid.
29 BV 1947, in : Pfäfflin (Hg.), Nähe, 2008, 70 ; vgl. auch BV, Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit,
in : Ginsberg (Hg.), Dichtungen und Dokumente, 1956, 274–275 ; Timms, Kraus, 2005, 197, 548–
549 ; Sidonie Nádherný 1947 und Heinrich Fischer 1961, in : Pfäfflin (Hg.), Nähe, 2008, 21 und 18.
30 Soyka, Erinnerungen ans Café Central, in : Lynkeus , Heft 16/17, Frühjahr 1981, 50.
31 BV, Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit, in : Ginsberg (Hg.), Dichtungen und Dokumente, 1956,
212.
32 BV, Harry Heine, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 67–68.
33 Kouno, Performativität, 2015, 53–113.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359