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geworden war.39 Es ist also unwahrscheinlich, dass Kraus diese berufliche Neu-
orientierung Viertels sehr unterstützte, und schwer einzuschätzen, ob die beiden
in dieser Zeit viel Kontakt hatten.40
Vier Jahre später, 1915, musste Viertel gegenüber Albert Ehrenstein zugeben,
dass in seinem Verhältnis zu Kraus etwas schiefgelaufen war. Trotz »der großen
Privatschule«, die Kraus ihm geboten hatte, war er »in das unausbleibliche Miss-
verständnis der Nähe, die zu nahe für mich war«, geraten.41 Die von Otto Soyka
und Alfred Polgar anerzogene, Strategie, »Kraus relativ zu nehmen«, hatte Vier-
tel zwar geholfen, unabhängig zu bleiben, führte aber schließlich auf Abwege :
Im Herbst 1914 verfasste der als Leutnant einberufene Berthold Viertel, noch
von Korpsgeist und Heldenromantik erfüllt, martialische Gedichte wie Plänkler
und Kote 708.42 Nur wenige Wochen später erlebte er den Winterrückzug aus
Serbien, der ihm die Absurdität von Schützengrabenpoesie selbst vor Augen
führte, doch die Gedichte waren bereits abgeschickt und wurden wenig später
publiziert.
Kraus’ Haltung zum Kriegsausbruch wurde vorerst nicht öffentlich. Im Juli
1914 hatte er den in Sarajewo ermordeten Thronfolger Franz Ferdinand noch als
einer von wenigen betrauert. Und im August hatte er sogarÂ
– einem kurzlebigen
Impuls folgend – eine Kriegsanleihe gekauft.43 Erst Mitte November positio-
nierte sich Kraus in seinen Vorlesungen wie auch in zwei dĂĽnnen Ausgaben der
Fackel : »In dieser großen Zeit, die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war
[…], da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten.« Nur Schweigen könne
in dieser Zeit vor Missdeutung bewahren – so kündigte Kraus seinen »strategi-
schen Rückzug aus der Position der öffentlichen Meinung« an.44 Tatsächlich
schwieg die Fackel nun acht Monate.45 Berthold Viertel muss von Kraus’
Sprachlosigkeit enttäuscht gewesen sein.
Im Sommer 1915 entschloss sich Kraus, sein Schweigen doch zu brechen und
begann in drei Kriegsjahrgängen der Fackel sowie in Die letzten Tage der Mensch-
heit gegen den Krieg anzuschreiben : »Der Ausbruch des ersten Weltkriegs
39 Zucker, Katharina, Die Bedeutung von Stefan GroĂźmann fĂĽr das Wiener Geistes- und Kulturleben
in der Zeit von 1900 bis 1914, Wien 2007 [Diss.], 23–31 ; siehe »Theater«.
40 Wenige Briefe liegen vor : Briefe BVs an Karl Kraus 1910–1924, HS, WBR ; Ludwig Münz, ein en-
ger Freund aus dem Kraus-Kreis, »unterbrach« aufgrund der Volksbühnentätigkeit die Freundschaft
mit Viertel sogar kurzfristig ganz (Jansen, Berthold Viertel, 1992, 105).
41 BV an Albert Ehrenstein, 17. Oktober 1915, H.I.N. 166172, Teilnachlass Karl Kraus, HS, WBR.
42 Viertel, Graues Tuch, 1994, 52–59.
43 Timms, Kraus, 2005, 64–65.
44 Karl Kraus, Die Fackel 404 (1914) und 405 (1915).
45 Grund waren auch private Turbulenzen : Kraus hatte sich verliebt (Pfäfflin, Friedrich (Hg.), Karl
Kraus. Briefe an Sidonie Nádherny von Borutin. 1913–1936, Göttingen 2005).
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359