Seite - 276 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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machte Karl Kraus verstummen ; […] dann erhob er seine Stimme wieder. Und
es stellte sich heraus, daĂź sie an Kraft und Ausdruck, dem Ungeheuerlichen
gegenüber, ungeheuer zugenommen hatte. Sie […] war eine der wenigen Stim-
men des europäischen Gewissens.«46
Kraus’ pazifistische Haltung schloss auch die satirische Behandlung kriegsbe-
geisterter SchriftstellerkollegInnen ein und zu diesen gehörte nun auch sein
Freund Berthold Viertel. Kraus muss enttäuscht gewesen sein. Es bestand in den
ersten Kriegsjahren wohl keine Verbindung.
»Wie geht es Herrn Karl Kraus ?«, fragte Berthold Viertel im März 1916
Albert Ehrenstein und war schon im nächsten Satz besorgt, dass Ehrenstein
diese Frage an Kraus weiterleiten könnte : »[…] [E]r missversteht es vielleicht
durch all den 1000-Sachen Tratsch hindurch, aber sagen sie mir es, weil es mich
ehrlich interessiert.«47 Albert Ehrenstein ließ ihm jedenfalls die erste umfang-
reiche Anti-Kriegs-Fackel im Oktober 1915 zukommen und Berthold Viertel –
inzwischen an der Karpatenfront – war begeistert von diesem »Ereignis« …
[…] von dem ich fürchtete, es könnte ausbleiben. Umso […] grauenhafter wirkt es
jetzt, dass im Krieg fast alle Geister versagt haben. Nur Kraus vermochte […] alles zu
leisten, was eine Myriade von Schriftstellern in einer ganzen Kriegsbibliothek antil-
eistete. Der Krieg hat Karl Kraus nicht gebrochen, im Gegenteil, er hat ihn erst so
recht bestätigt, begründet, unterstrichen ! […] Wenn ich irgendetwas vom Krieg ge-
lernt haben sollte, so ist es gerade das, was Karl Kraus […] schon vor dem Kriege
wusste. […] nun habe ich seinen absoluten Wert erfahren, der mir durch nichts mehr
zu erschĂĽttern ist. Diese Erkenntnis kommt ja nicht mehr aus jugendlichem Anleh-
nungsbedürfnis, ich bedarf keiner männlichen Führung mehr. So macht es auch nichts
mehr aus, dass ich ihm meinen gezielten Dank nicht persönlich sagen kann. Ich werde
meinen Dank geistig bewirken […].48
Albert Ehrenstein lieĂź diesen Brief offenbar doch Kraus zukommen, der ihn im
Mai 1916 in der Fackel zitierte und damit dem dort ungenannt bleibenden »aus
der ›Fackel‹ hervorgegangenen« Lyriker seine Kriegsgedichte verzieh : »Ich bin
der letzte, einer Begabung, die sich hinreiĂźen lieĂź, zu sprechen, was Millionen
nicht empfinden, noch dann zu miĂźtrauen, wenn sie wieder den AnschluĂź an
ein Gefühl gefunden hat.«49
46 BV, Begegnung mit Karl Kraus, o.D., o.S., K13, A : Viertel, DLA.
47 BV an Albert Ehrenstein, 5. März 1915, 69.2041/1, K31, A : Viertel, DLA.
48 BV an Albert Ehrenstein, 17. Oktober 1915, H.I.N. 166172, Teilnachlass Karl Kraus, HS, WBR.
49 Karl Kraus, Die Fackel 423–425 (1916), 23.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359