Seite - 282 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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hätten uns auf ewig zerstritten«, antwortete Berthold Viertel, erschöpft von ei-
nem älter gewordenen Kraus.78 Viertels neue Erfahrungen in den USA machten
sich nun doch in abweichenden Wahrnehmungen bemerkbar, die zu Streit fĂĽhr-
ten. Kraus wurde von Viertel zunehmend als »Vaterfigur« gedacht und nicht
mehr als selbsterwählter Freund oder gleichgesinnter »Sohn« : »Zwischen Vätern
und Söhnen – auch geistigen – waltet ein Gesetz, gegen das der Einzelne ver-
geblich ankämpft«, bemerkte Viertel, als er sich 1934 daran erinnerte, dass die
letzten Begegnungen mit Kraus »nicht glücklich« waren und auch »der Kreis«
ihn zu stören begann : »Man kommt aus Amerika, aus einer anderen Welt. Na-
tĂĽrlich kann man nicht verlangen, dass der Mensch, der zuhause geblieben ist,
um des Besuches willen sein tägliches Leben ändert.«79 Wo immer er in Wien
auftauchte, galt er freilich weiterhin als »der Busenfreund vom Kraus«80.
Um diese Jahreswende 1932/33 bereiteten die NationalsozialistInnen ihre
MachtĂĽbernahme in Deutschland vor. Auch Kraus und Viertel konnten die
Geschwindigkeit, mit der ihre Vorahnungen nun Wirklichkeit wurden, nicht
ganz begreifen. Berthold Viertel verhandelte noch in Berlin ĂĽber einen Regie-
auftrag. Kraus prozessierte weiter gegen das Frankfurter Schauspielhaus, obwohl
die Personen, die er geklagt hatte, schon Vorbereitungen zur Flucht trafen.81
Kraus AnhängerInnen im In- und Ausland erwarteten gespannt die Analyse
der Fackel, doch zunächst schwieg Kraus wieder und viele nahmen an, dass sich
der Satiriker verabschiedet hatte, da sein Wort nicht mehr »traf«.82 Doch wie
schon im Ersten Weltkrieg bereitete Kraus in seinem Schweigen etwas vor. Er
versuchte seit März 1933, sich von Wien aus ein Bild vom verbrecherischen
Charakter der NS-Herrschaft zu machen, beschloss dann allerdings, seine be-
reits gesetzte Arbeit zurĂĽckzuziehen, Konsequenzen fĂĽr sich und andere fĂĽrch-
tend.83 Berthold Viertel und Ludwig Münz wussten um Kraus’ »geheime« Ar-
beit an der später sogenannten Dritten Walpurgisnacht und um das Problem »soll
Kraus […] veröffentlichen« oder nicht : »Wir Anhänger des Geistes sind in einer
78 BV an Salka Viertel, 9. Dezember 1932, 78.860/23, K34, A : Viertel, DLA.
79 BV an Ludwig MĂĽnz, 14. November 1935, 78.849/4, K42, A : Viertel, DLA.
80 BV an Salka Viertel, o.D. [Jänner 1933], 78.862/2, K34, A : Viertel, DLA.
81 Karl Kraus contra … : die Prozeßakten der Kanzlei Oskar Samek in der Wiener Stadt- und Landes-
bibliothek, hrsg. von Herwig Würtz, bearb. u. kommentiert von Hermann Böhm, Wien, Bd 2, 1995,
254–322.
82 Vorläufig erschien ein 4-seitiges Heft, das (abseits eines Nachrufs auf Loos) das Gedicht enthielt :
»Man frage nicht, was all die Zeit ich machte. / Ich bleibe stumm ; / und sage nicht, warum. […]
Kein Wort, das traf […] Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.« (Kraus, Die Fackel 888 (1933),
4).
83 Ganahl, Karl Kraus, 106.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359