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tragisch-komischen Position«, kommentierte Viertel bitter : »Unsere Märtyrer
funktionieren nicht, scheint ein Fehler in der Apparatur vorzuliegen.«84
Nur zwei Tage nach dem nationalsozialistischen Wahlsieg in Deutschland
erklärte der österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß aufgrund eines
formalen Abstimmungsfehlers den österreichischen Nationalrat für handlungs-
unfähig. Er sprach von der »Selbstausschaltung des Parlaments« und schlug, mit
den Notverordnungen eines »Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes«
regierend, einen autoritären Kurs in Richtung eines korporatistischen, katholi-
schen »Ständestaats« ein. Dazu gehörten Zensur, Aufhebung der Versamm-
lungsfreiheit und auch die WiedereinfĂĽhrung der Todesstrafe. Kritische Moder-
nität – die mittlerweile besonders im »Roten Wien« der Sozialdemokratie eng
verbunden waren – wurden zunehmend unterdrückt. Angeblich hatten Dollfuß’
autoritäre Maßnahmen eine »Verteidigung Österreichs« zum Ziel und richteten
sich vornehmlich gegen terroristisch auftretende österreichische Nationalsozia-
listInnen ; tatsächlich wurde so die Chance genutzt, die Sozialdemokratie zu
entmachten.85 Die sozialdemokratische FĂĽhrung war lange unsicher, ob sie zum
Aufstand aufrufen sollte. Im Februar 1934 begannen sich aber Sozialdemokra-
tInnen in Linz und Wien spontan gegen die Entwaffnung ihres Schutzbundes
zu wehren und gaben damit den Auftakt zum bewaffneten Widerstand. Und
Dollfuß’ Regierung schlug daraufhin in dreitägigen Kämpfe, mit überlegener
Organisation, die österreichische Arbeiterbewegung nieder. Polizei und Bundes-
heer beschossen Parteiheime, sozialdemokratische Einrichtungen und die neuen
Gemeindebauten. In Folge wurde die sozialdemokratische Partei verboten ; ihre
FĂĽhrung floh, wurde eingesperrt oder hingerichtet.
Berthold Viertel, der der Arbeiterbewegung trotz seiner Kritik immer nahe-
gestanden hatte, verfolgte die Februarkämpfe von London aus in allen mögli-
chen Medien und raste »vor Verzweiflung«, wie sein junger Kollege Christopher
Isherwood festhielt.86 Als zwei Wochen nach dem Ende der Kämpfe ein Brief
des Kraus-Verehrers Karl Jaray eintraf, der Viertel zur Mitarbeit an einer Fest-
schrift zu Kraus’ 60. Geburtstag einlud, begann er sofort einen Aufsatz zu sch-
reiben, in den all seine Empörung über die österreichischen Ereignisse floss :
Dass Kraus nun schweige, sei verständlich, meinte er da, denn der Februar 1934
habe ihn wieder einmal bestätigt. In seiner Aufregung kam er dann etwas vom
Thema Kraus ab und schrieb ĂĽber den inhaftierten sozialdemokratischen Stadt-
84 BV an Salka Viertel, 21. November 1933, 78.863/10, K34, A : Viertel, DLA.
85 Emmerich Tálos, Das austrofaschistische Herrschaftssystem, in : Tálos, Emmerich und Neugebauer,
Wolfgang (Hg.), Austrofaschismus. PolitikÂ
– Ă–konomieÂ
– Kultur. 1933–1938, Wien 2005, 394–420.
86 Isherwood, Praterveilchen, Hamburg 1998, 44 und 108 ; Isherwood, Christopher and His Kind,
2001, 156–157.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359