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284 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
rat Hugo Breitner, der »Häuser für die Arbeiter« gebaut hatte : »Aber die Bour-
geoisie der Stadt […] liebte diese Häuser nicht. Und schließlich erlebten wir,
dass Artillerie auffuhr und diese unbeliebten Wiener Häuser samt Inhalt an
Frauen und Kindern beschoß.« Viertel war sicher, dass Kraus wie damals beim
Justizpalastbrand 1927 gegen den Staat, der auf seine BürgerInnen schoss, Stel-
lung beziehen würde. Fast beschwörend schloss er damit, dass Kraus »nie eine
andere Partei genommen [habe] als die der Humanität« und »nicht gleichzu-
schalten« sei – »mit keinem politischen Programm, mit keiner Macht und
Meinung«87.
Karl Jaray reagierte entsetzt auf Viertels Beitrag. Er teilte mit, dass solche
Aussagen in Österreich derzeit nicht gedruckt werden könnten und Kraus’ Auf-
fassung der »Februar-Ereignisse« der von Viertel überdies »entgegengesetzt«
sei.88 Wenige Tage später kam ein Brief von Ludwig Münz, den Viertel offenbar
in dieser Sache angerufen hatte und der Jarays Worte hatte bestätigen müssen :
Karl Kraus sah in Dollfuß im Vergleich mit Hitler das »kleinere Übel«. In »man-
chem Grundlegenden« habe er dabei sicher recht, erklärte Münz, der aus Angst
vor Überwachung sehr verklausuliert formulierte : »Nur dort, wo im Gespräch
manchmal das kleinere Übel zum höheren Wert wird, beginnt für mich die
schwere Beklemmung. Es gibt Augenblicke, wo ich nicht Noahs Sohn sein will
und wegschaue, wenn sich die Blöße mir zu offen darbietet.« Münz plädierte
aber dafür, dass man den sehr isolierten Kraus gerade jetzt nicht im Stich lassen
dürfe und hoffte, dass Kraus’ »unerträgliche« Äußerungen schriftlich einen »hö-
heren Sinn« erlangen würden.89 Schließlich eliminierte Münz in Absprache mit
Viertel alle kritischen Stellen in dessen Beitrag und gab den Text für die Publi-
kation frei.90 Er bat Berthold Viertel auch, falls er mit Kraus telefoniere, seinen
»Bedenken« keinen Ausdruck zu geben.91
Viertels »Bedenken« erreichten aber einen neuen Höhepunkt, als er Ende Juli
Die Fackel 890–905 las. Nun hatte er es schriftlich, dass Kraus den autoritären
»Ordnungsstaat« unter Dollfuß verteidigte und »den Glauben an die Wider-
standskraft der Demokratie, zu der er sich seit dem Ende des Weltkrieges be-
kannt hatte, verloren« hatte.92 Dass Dollfuß in den Tagen, als diese Fackel aus-
87 BV, Zu Karl Kraus’ sechzigstem Geburtstag, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwindung, 1989,
16.
88 Karl Jaray an BV, 26. März 1934, 69.2488/1, K41, A : Viertel, DLA.
89 Ludwig Münz an BV, 24.
April 1934, 69.2616/2, K42, A : Viertel, DLA.
90 Er erschien im Herbst 1934 in dem Sammelbuch Stimmen über Karl Kraus zum 60.
Geburtstag, her-
ausgegeben von einem Kreis dankbarer Freunde im Verlag der Buchhandlung Richard Lányi.
91 Ludwig Münz an BV, 9. Mai 1934, 69.2616/3, K42, A : Viertel, DLA.
92 Karl Kraus, Die Fackel 890–905 (1934) ; BV, Erinnerungen an Karl Kraus [Rede], o.D. [um 1948],
227, K13, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359