Seite - 286 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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286 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
auch verzeihen können, dass ich nie imstande war, klar zu sehen und klar zu urteilen ;
aber meinem Gefühl bin ich immer gefolgt, so gut ich konnte.97
So erklärte Viertel sein Schweigen, das »alte Liebe und viel neue Sorge« enthalte.
Er sorgte sich um den gealterten, kränkelnden Kraus und er hatte Angst vor
einem endgültigen Bruch :98
Jetzt, da das Unglück über uns hereingebrochen ist, da wir alle – unsere Generation
und erst recht die vorhergehende – mit heruntergelassenen Hosen und nacktem Hin-
tern dastehen, da habe ich einfach Angst, dass ich mit dem besten Bestreben einen
alten Mann verletzen werde, mehr als ihn mein Schweigen verletzt. Ich fürchte mich
vor meinen eigenen Fehlern, die unausbleiblich sind. Ich bin ohnehin glücklich, dass
ich nicht in Wien bin und sitzen bleiben muss, wenn er Leute auffordert, aufzustehen.
Wenn er das »abgefallen sein« nennt, bin ich millionenfach abgefallen.99
Zu Weihnachten 1935 kam Viertel nach Wien, um ein letztes Mal persönlich
mit Karl Kraus zu sprechen
– an Salka Viertel schrieb er von seiner »notwendige[n]
Auseinandersetzung mit Karl Kraus, die von ½ 12h Nacht bis ½ 6h morgens
dauerte, nur wir beide und nur Politik – kaum ein paar persönliche Sätze, die
Erkundigungen nach Dir und den Kindern waren, von denen er Genaueres
wissen wollte, als ich ihm sagen konnte.«100
Im erinnernden Rückblick auf Kraus gab Viertel diesem Gespräch ein ver-
söhnliches Ende : Zwar seien die Widersprüche – der »kleine« in Sachen Heine
und der »große, grundlegende« in Sachen Dollfuß
– unauflöslich geblieben, aber
die Freundschaft habe es überstanden : »[In] langen Stunden hörte er sich meine
Vorwürfe und Einwände, die rückhaltlos vorgebracht wurden, mit der sanftesten
Geduld an und versuchte sie zu entkräften, ohne dass der eine von uns den an-
deren überzeugt hätte.«101 Und Viertel verteidigte Kraus nochmals : Nur die
»tiefgefühlte Erfassung« der »Hitler-Katastrophe« habe ihn zu dieser Fehlein-
schätzung verleiten können :
Während dieses Gespräches wurde mir immer banger bewusst, welche Hoffnungslo-
sigkeit der Ausbruch der Barbarei in Karl Kraus bewirkt hatte. […] Nur so erklärte
sich die irrige Wahl des sogenannten kleineren Übels, das doch nur eine Angleichung
97 BV an Ludwig Münz, 12. November 1935, 78.849/3, K32, A : Viertel, DLA.
98 BV an Ludwig Münz, 14. November 1935, 78.849/4, K32, A : Viertel, DLA.
99 BV an Ludwig Münz, 27. November 1935, 78.849/5, K32, A : Viertel, DLA.
100 BV an Salka Viertel, 21. Februar 1936, 78.866/9, K34, A : Viertel, DLA.
101 BV 1947, in : Pfäfflin (Hg.), Nähe, 2008, 312.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359