Seite - 287 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Karl
Kraus | 287
an das größere war und ein Übergang dazu. Karl Kraus sah in Dollfuß einen Märtyrer,
in den gefallenen Arbeitern dagegen die von einer falschen Politik verführten, vergeb-
lichen Opfer. Ich sah es vom Ausland her anders, und ich konnte bei dem mir geistig
Überlegenen die Blendung des Blickes nicht verstehen […]. Was alles an zutiefst
verbitterten Sprüchen und Widersprüchen in diesen dreihundertsechzehn Seiten der
Fackel […] enthalten ist, ich habe es nie mit Ruhe aufnehmen können […]. Hier stand
der Apokalyptiker, der so vieles vorausgesehen […] hatte, an der Grenze seiner Mög-
lichkeit, zugleich der Mensch an der Grenze seines Lebens. […] [E]r lehnte das
freundliche Angebot eines Asyls in Kansas ab. Er wollte Wien nicht verlassen, was
auch kommen möge.102
Berthold Viertel zufolge trennte er sich nach dieser letzten Begegnung im Ein-
vernehmen von Kraus. Für Viertel allerdings war der »österreichische Faschis-
mus eines Dollfuß und eines Schuschnigg […] die letzte und tragischste der
österreichischen Illusionen.«103 Und Kraus, der »Niederreißer« aller österreichi-
schen Illusionen, war ihr erlegen. Er, der die oppositionelle Sohnesgeneration
der »kritischen Moderne« wie kein anderer repräsentiert hatte, war damit ein
erhaltender »Vater« geworden. Beide spürten wahrscheinlich, dass wirkliches
Einvernehmen nicht mehr herzustellen war. Kraus hatte schon 1935 begonnen,
sich von seinen ältesten Freunden Viertel und Münz zu lösen. Zum Zerwürfnis
mit Ludwig Münz war es aufgrund eines Streits zwischen ihm und Kraus’
Freundin Helene Kann, die Kraus’ Nachlass archivierte, gekommen. Als Münz
für eine Edition vorgesehene Altenberg-Briefe sehr verspätet zurückgab, warf
Kann ihm »jüdische Unverschämtheit« vor. Ludwig Münz prozessierte und
Viertels Versuche, ihn »von der Torheit dieser Aktion zu überzeugen, waren
vergeblich« :104
Solch eine Gerichtsverhandlung – was für ein Schmutz ! Eine Jüdin bezichtigt einen
Juden einer jüdischen Untugend. Und darüber verhandelt ein österreichischer Richter.
Der Vorfall selbst spielt in einem engen Kreise ältlicher Esoteriker […]. Anlass des
Streites sind die erotischen Briefe des armen Peter Altenberg. […] [Kraus] ist doch
ein Meister der Logik, die das Falsche in die Wahrheit umbiegt. An Verstandesschärfe
uns allen turmhoch überlegen, besitzt er noch dazu eine infernalische Übung in diesen
Dingen. Dagegen kannst du keinem Richter der Welt die komplizierten seelischen
Bedingungen des Kraus Kreises plausibel machen […].105
102 Ibid.
103 Viertel, Berthold : BV, Die Heimkehr des verlorenen Sohnes, o.D., 240/a, K13, A : Viertel, DLA.
104 BV an Salka Viertel, 21. Februar 1936, 78.866/9, K34, A : Viertel, DLA.
105 BV an Ludwig Münz, 16. Februar 1936, 78.849/6, K32, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359