Seite - 292 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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292 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
das ihn »zum Theater, das meine lebenslange Praxis werden sollte, erweckt[e]«5
und so »vielleicht das ganze Unglück angerichtet hat«, schrieb er später :6
Ich sehe sie noch alle vor mir, […], trotz allem, was ich in dem folgenden halben
Jahrhundert auf der Bühne des Theaters und auf der Bühne des Lebens gesehen habe.
Diese Gestalten und Gestalter, die ersten, die ich im Rampenlicht erblicken durfte,
haben ein Weltenchaos ohnegleichen in meinem viel erschütterten und viel geschüt-
telten Inneren überlebt.7
Obwohl der Besuch des Raimundtheaters sicher keine ungewöhnliche Erfah-
rung für ein Kind seiner Herkunft war und obwohl es sich bei diesem Theater
um eine christlichsozial geprägte Unternehmung handelte, prägte sich diese
»Initiierung« Viertel tief ein und ließ ihm in Folge Theater zu einer antibürger-
lichen Alternative werden :8
Seine Phantasie schweifte ab von dem jüdischen Kleinbürgertum seines Elternhauses
[…]. [E]r unternahm frühzeitig seine Fluchtversuche […]. So ergriff er schon im
Kinderzimmer die Gelegenheit, in das Innere eines Bildes an der Wand zu entfliehen,
das nachts, unter der zuckenden Beleuchtung eines Öllämpchens, sich […] zu öffnen
begann.9
Bald nach dem ersten Theaterbesuch entdeckte er, durch ein »mir zufällig in die
Hände geratenes Reclam-Büchel«, Shakespeare : »Dadurch war mit einem
Schlage das Leben dramatisch bedeutend geworden.« Nur wenig später kam er
zu Friedrich Schiller : Die Räuber oder Wilhelm Tell sprachen sein »anarchisti-
sches Freiheitsgefühl« zwar nicht an, doch er begeisterte sich für den »ränke-
süchtigen, hochpolitischen Fiesco«, den er mit seiner Schwester Helene, »die ich
in meinen Kult der dramatischen Darstellung eingeweiht hatte«, wieder und
wieder nachspielte :
Als Bühne diente uns das geräumige Sofa im Schlafzimmer der Eltern. Ich erdolchte
meine Schwester als Fiescos Gattin und stürzte ihre Leiche ins Meer, das heißt auf
den Teppich hinab, der ihren Sturz mildern sollte. Aber sie fiel ungeschickt und stieß
sich die oberen scharfen Schneidezähne durch die Unterlippe. Davon ist eine Narbe
5 BV, Erinnerungen eines Regisseurs, in : Geist und Zeit, Heft 2, Darmstadt 1956, 40–42.
6 BV an Viertel-Neumann, Elisabeth am 5./6.
September 1943, 91.15.61/14, K33, A : Viertel, DLA.
7 BV, [Die gefesselte Phantasie], in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 60.
8 BV, Tagebuch 1930, o.S., K22, A : Viertel, DLA.
9 BV, Autobiographisch, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 54.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359