Seite - 296 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Moderne
Mienenspiel, Falten des Lachens und Zorns aufmalte, um sie scheinlebend zu ma-
chen.20
Berthold Viertel dürfte bei dem »Tumult«, der als Vorläufer des Bühnenexpres-
sionismus in die Theatergeschichte einging, dabei gewesen sein. Karl Kraus hielt
das Projekt – trotz seiner »persönlichen Sympathien« für Kokoschka – für »ei-
nen Schmarren«21, doch Viertel selbst äußerte sich nicht dazu. Selbstverständ-
lich kannte er aber Kokoschka als sich selbst inszenierendes, kahlgeschorenes
»enfant terrible« unter den »kritischen Söhnen« ebenfalls gut und bewunderte
ihn wohl auch.22 Im Jänner 1912 hielt Kokoschka einen Vortrag über Das Be-
wuĂźtsein der Gesichte im halbleeren Saal des Wiener Ingenieur- und Architek-
tenvereins und erzählte später : »[…] [D]ie meisten Leute haben nichts verstan-
den, jedoch […] Berthold Viertel war so begeistert, daß er mich bat, ihm das
Manuskript zu leihen. Dieses mein einziges Exemplar hat er natĂĽrlich prompt
in der Tramway verloren […].«23
Gerade in der Theaterszene bildet sich die engen Vernetzung der kritisch-
modernen Sohnesgeneration immer wieder ab. Gustav Mahlers streng durchge-
bildete Wagner-Inszenierungen an der Hofoper waren ebenfalls ein Fixpunkt
für viele.24 Und der junge Schauspieler Rudolf Forster, der in Kokoschkas »Pi-
loten« mitwirkte und kurz darauf auch Viertel in Arbeit und Freundschaft ver-
bunden war, berichtete von einem weiteren »Ereignis« : Am 20.Â
September 1910
war Josef Kainz – Inbegriff des modernen Schauspielers und als solcher unab-
hängig vom Burgtheater hochverehrt – gestorben. Nach seiner Beerdigung ver-
sammelten sich »im Café Beethoven auf der Lastenstraße […] Stefan Zweig mit
der Virginia, Berthold Viertel, mit seiner Schale Haut, Stefan GroĂźmann, zwei
Eier im Glase, und ich – in uralter Zeit.«25 Dass Stefan Zweig, der sich ansons-
ten eher »väterlichen« Kreisen ums Burgtheater zuordnete, hier mit dabei war,
zeigt die Durchlässigkeit der Kreise und ihre Verbindung über Gegensätze
hinweg. Karl Kraus wiederum lehnte den »einen und einzigen Kainz« als »Ver-
fall« ab und kam nicht dazu.26 Dafür war Kraus zusammen mit Loos, Kokoschka
und Viertel ein »Habitué« des »jiddischen Theaters« im Budapester Orpheum in
20 Kokoschka, Mein Leben, 2008, 62–63.
21 Verlag Die Fackel an den Tribunalverlag, 28.04.1920, H.I.N. 238.978, Teilnachlass Karl Kraus,
WBR.
22 Holmes, Schwarzwald, 2012, 136.
23 Kokoschka, Mein Leben, 2008, 109–110.
24 BV, Heimkehr nach Europa, geschrieben um den 9. November 1932, 296, K19, A : Viertel, DLA.
25 Forster, Spiel, 1967, 116–117.
26 BV, Karl Kraus und das Burgtheater, in : Heidenreich (Hg.), Berthold Viertel Schriften, 1970, 404–
405.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359