Seite - 305 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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  Theater |  305
Weltkriegs »ohne jedes Vorbild das wagte, was man später als Expressionismus
bezeichnete.«69 Die Umstände blieben aber schwierig. Es gab keinen erfahrenen
Theaterpraktiker an der VolksbĂĽhne, der Viertel in seinen Wagnissen, die noch
dazu unter großem Zeitdruck entstanden, unterstützt oder beraten hätte. Im
November 1913 ließ Viertel den österreichischen Lyriker und Dramatiker An-
ton Wildgans wissen :
Mir geht es schlecht. Ich lebe wie ein Verschütteter ! Lebendig begraben. […] Was
nützen da die äußeren Erfolge, der Schippel Erfolg zum Beispiel, der mich ja als Regis-
seur sehr befriedigen müßte. Oft in der letzten Zeit hätte ich mich gerne an Ihre
stärkere Hand angehalten ! […] Aber ich kann’s Ihnen erst jetzt sagen, wo ich mich
schon so ziemlich durchgebissen habe. Was alles auf mich drückt – davon mündlich,
bis Sie erst wieder da sind. Nur noch eins im Vertrauen […] : ich glaube nicht, daß ich
in der nächsten Saison in Wien sein werde. Je nördlicheres Deutschland, umso besser.70
Offenbar wollte Viertel sich doch wieder stärker der Lyrik oder generell dem
Schreiben zuwenden, empfand sich aber in dieser Szene zunehmend als »Out-
sider«. Auch die Zusammenarbeit mit Rundt gestaltete sich immer krisenhafter,
vor allem nach Viertels eher erfolgloser Clavigo-Premiere Ende Jänner 1914 :
Lieber Freund, als ich Ihren Brief […] bekam, war gerade Generalprobe, war am
nächsten Tag Premiere, und am übernächsten Tag Kritik, und dann Krach und so
weiter ! Ich kam – Theaterkuli, der ich bin – nicht zum Schreiben. […] Was mich
belangt – ich sagte Ihnen ja damals schon, daß mich der Zwist um den Clavigo aus
der Stellung zwingen würde. Es ist geschehen. […] Gehe schweren Herzens von der
Volksbühne, wenn auch leichten Herzens von R.[undt] – schade um das Betätigungs-
feld, schade darum, daß ich nächstes Jahr nicht mehr mit Forster arbeiten kann, mit
[Curt] Goetz […]. Aber intern – die Sache lässt sich heute kaum mehr leimen. Es
wäre leicht gegangen, wenn eine dritte Person zwischen mir und R.[undt] gestanden
wäre. Aber es stand niemand da. Und wie sehr ich mir vornahm, nächstes Mal diplo-
matischer zu sein, ich war jedes Mal undiplomatischer – das heißt : ich wartete dem
Mann mit immer aufrichtigeren Aufrichtigkeiten auf – bis ich ihn glücklich beleidigt
hatte. Und das gründlich. Es heißt also für mich, jetzt im März etwas Rechtes finden.
Finde ich nichts, so gehe ich Ende Juni vom Theater ab, nach solcher Arbeit, mitten
im besten Erfolg, und gehe mit meiner Frau ins Ungewisse hinaus, ohne Heller Gel-
des, ohne Ahnung, wohin.71
69 BV, o.T. [Meine Kenntnis des Berliner Theaters], o.D., 139, K14, A : Viertel, DLA.
70 BV an Wildgans, Anton am 13. November 1913, 83.110, K33, A : Viertel, DLA.
71 BV an Rudolf Forster am 6. März 1914, 69.2047/3, K31, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359