Seite - 306 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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306 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
Was genau zu Viertels Kündigung führte, wird aus den Quellen nicht deutlich.
Als er 1918 auf die Volksbühnenzeit zurückblickte, wandte er sich jedenfalls
weitaus heftiger gegen den Geschäftsführer Arthur Rundt als gegen den ihm
ursprünglich suspekten Stefan Großmann. Insgesamt aber sei die Volksbühne
an der »Zwiespältigkeit, die zwischen einer sozialen Notwendigkeit und einer
kapitalistischen Spekulation sich entwickeln mußte« und damit an der Verbin-
dung von Großmann und Rundt gescheitert :
Heute ermesse ich, wie diabolisch dieser Grundeinfall war, und ich weiß jetzt, daß
[…] dieser Verrat am Volksbühnen-Gedanken nicht nur ein tieferes, sondern auch ein
recht reales Versagen bedingen mußte. […] Hätte [das] Publikum [der Volksbühne]
sich konsolidiert, indem es sich sein eigenes Haus gebaut hätte, […] vielleicht hätte
der Organisations-Zwang, der dem Verein innewohnt, Organisches wenigstens auch
im Spielplan erzwungen, und der Spielplan hätte wohl wieder auf die Spieler ensem-
blebildend gewirkt. […] [Aber] die besondere Wiener Korruption mischte sich drein,
als ob sie die tiefere, wesensverwandte Unsolidität gewittert hätte. Aus dem großen
Haus wurde ein mittleres Saaltheater […] und man improvisierte weiter. Das typische
Schicksal solcher Bühnen vollzog sich auch hier.72
Es ist unklar, ob Berthold Viertel bereits aus der Volksbühne ausgeschieden war,
also ihn an seinem 29. Geburtstag die Nachricht von der Ermordung des Thron-
folgers Franz Ferdinand in Sarajewo erreichte. Was auch immer er in den fol-
genden Wochen für Pläne machte, sie wurden am 3. August mit seiner Einbe-
rufung in den Weltkrieg zunichtegemacht. Auch die Wiener Freie Volksbühne
überlebte den Weltkriegsbeginn nicht lange.73
Im Krieg hatte Viertel Zeit, um über seine berufliche Zukunft als Dichter
oder Regisseur nachzudenken, und schrieb Anfang 1916 :
Ich für meine Person habe wenig Lust, mich nach dem Kriege, wenn ich davonkom-
men sollte, wieder vom Theater einschlucken zu lassen. […] An ein Wiener oder
Berliner Theater sehne ich mich nicht. Schon deshalb nicht, weil sich das Dichtende
bei mir nicht länger unterdrücken lässt. Es war lange genug gehemmt. […] Das
Theater war immer meine zweite Möglichkeit gewesen. Mein zweiter Stein im Brett.
[…] Was mich beruhigt […] : die 3 Theaterjahre haben mir viel gegeben. Und der
Krieg hat mich viel gelehrt. […] Mein Nachlass, wenn mich morgen eine Flieger-
72 BV, Volksbühne 1911, in : Heidenreich (Hg.), Berthold Viertel Schriften, 1970, 229–231.
73 Hadamowsky Wien. Theatergeschichte, 1988, 785–787 ; Grünwald, Wiener Freie Volksbühne, 1932,
135–140.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359