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Erster
Weltkrieg | 311
die durch ihr »Vorwärtszerren […] die Katastrophe entfesselt, die altersschwach
gewordene Hand des Vaters konnte nichts mehr aufhalten.«4 Viertel sah Franz
Joseph als »Friedenskaiser« – ein Bild, das erst die rezente Weltkriegsforschung
berichtigte, die aufzeigte, dass Franz Joseph den Krieg sogar unter Einsatz seiner
extrakonstitutionellen Macht beförderte.5 Auch Franz Ferdinands Fahrt nach
Sarajewo idealisierte Viertel als »völlig törichten […], echt österreichischen
Heroismus«6. Reste von »monarchischem Gefühl« könnten Viertels Schreiben
hier ebenso bestimmt haben wie durch das Exil bedingte Nostalgie und eigene
Zerstörungssehnsüchte. Unter widersprüchlichen Vorzeichen wurde der Welt-
krieg also in Viertels Erinnerungsonstrukt um Erhalt und Zerstörung einge-
passt.
Den Weltkrieg in der österreichischen Armee mitmachen zu müssen, war eine doppelt
unglaubliche Erfahrung. […] [D]as war eine Schule des Absurden, es war der Welt-
untergang […] eines widerspruchsvollen Völkergemisches, das dennoch eines kultu-
rellen Sinnes nicht entbehrte. So verrückt Österreich-Ungarn war – ein explosives
Gemenge, das Europa in die Luft sprengte –, so möchte man es heute doch neu er-
finden, obwohl man die Unhaltbarkeit des Gebildes am eigenen Leibe erlebt hat.7
37 Tage nach dem Attentat in Sarajewo war Krieg in Europa und Viertel wurde
»[am] 1. August 1914 […] als Reserveoffizier beim Train […] einrückend ge-
macht. Ich verließ, neunundzwanzig Jahre alt, Wien, nicht wissend, ob ich es
jemals wiedersehen würde.«8
Darüber hinaus findet sich in den Texten des autobiografischen Projekts
nichts über einen begeisterten »Taumel« Wiens mit Fahnen und Musik, nichts
über den »Rausch« eines neuen Zusammengehörigkeitsgefühls, aber auch nichts
von Angst oder unheilschwangerer Stimmung.9 Auch zwei weitere Erinne-
rungsfragmente geben nur wenig mehr Einblick in Viertels letzte Wiener Tage
vor dem Einrücken : Er erzählte, wie sein ungeduldiger, einarmiger Vater ihm
das Packen seines Koffers abnahm und wie er vor seinem Aufbruch vor dem
Café Central einem »Freund meiner Jugend, mit dem ich gerade zerstritten war,
4 BV, Österreichische Illusionen/Der Knabe Robert Fürth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
5 Rauchensteiner, Erster Weltkrieg, Wien 2013 ; Rauchensteiner, Österreich-Ungarn und der Erste
Weltkrieg. Ein Überblick, in : Grundlagenpapier, 2014, 6–8.
6 BV, Österreichische Illusionen/Der Knabe Robert Fürth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
7 BV, Die Büchse der Pandora, o.D., 229, NK13, A : Viertel, DLA.
8 BV, Autobiographisches, o.D., o.S., NK09, A : Viertel, DLA.
9 Wie etwa bei Zweig, Welt, 1992, 256–261 und Kokoschka, Mein Leben, 2008, 139.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359