Seite - 316 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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geblieben. Ein Artillerist pflĂĽckt Blumen und pfeift dazu ein Volkslied. Ein Mann
vom furchtbaren Regiment 53 (Agram) sitzt am Rand eines Zierbassins und spielt
ganz vertieft mit einem Wurstel, den er in irgendeiner Villa gefunden. […] Es ist kalt,
sehr herbstlich. W. und ich sitzen, in unseren Mänteln frierend, auf einer Bank und
fangen das bisschen Mittagssonne ein. Wir schweigen und betrachten die Blumen-
beete. Plötzlich sagt W : ›Die Blumen gehören eigentlich auch längst unter Dach !‹ –
Im Kriege – «31
Inzwischen konnte auch mit den »wilden« Serben menschliche Gemeinschaft-
lichkeit hergestellt werden : »Die Schwarmlinie der Serben und Österreicher,
einander dicht gegenüber, hänseln sich gern prahlend mit ihren großartigen
Vorräten. Die Serben zeigen ein gebratenes Schaf am Spieß, die Österreicher
halten ein Schwein empor und so fort.«32
In dieser Zeit fand Berthold Viertel offenbar wieder »Anschluß an ein Ge-
fühl«, wie Karl Kraus es ausdrückte.33 Er selbst erklärte : »Man wird nie fertig
mit den Schulen. Volksschule, Gymnasium, Universität, Einjährigenjahr – das
ist alles Kinderspiel gegen den Weltkrieg, diese langwierigste und bitterste
Schule.«34 Der Dichter Georg Trakl, der wenige Wochen zuvor bei Gródek an
einer Überdosis Kokain verstorben war, war dieser Tage »in seiner Art der kon-
sequenteste Held« für Viertel, an den er oft denken musste. Obwohl er erstmals
wieder schriftstellerische Pläne machte, wusste er inzwischen, dass nicht abzu-
sehen war, ob und wann es für ihn wieder »ein Futurum« geben würde : »Irgend-
eine Schneewehe macht Schluß. […] Wir sind alle bereit auszuhalten, da es ums
Aushalten geht. […] [I]ch sehe erst jetzt, wie brav die meisten Kinder sind. Aber
wenn der liebe Gott ein Einsehen mit Europa hat, macht er bald ein lehrreiches
Ende.«35
Sich selbst hatte Berthold Viertel nie zu den »braven Kindern« gezählt und
nun hatte er, etwa drei Monate nach Kriegsbeginn, wieder eine kritische Hal-
tung eingenommen. Er war in dieser Zeit nicht nur mit Tod, Verletzungen,
Seuchen und psychischen Störungen konfrontiert worden, sondern hatte auch
Gewalt gegen die serbische Zivilbevölkerung abseits der Front als »Kehrseite
31 BV, Notizen aus dem Kriege, in : Neue Glühlichter, Nr. 1, 1 : Jänner 1915. Ähnliche »rein zuständli-
che« Alltagseindrücke von Kriegszerstörungen versammelte Viertel 1917 in seinem Vorwort zu dem
Bildzyklus von Alois Kolb, Aus den Karpathen und Ostgalizien. Mit dem Korps Hofmann, Wien
1917.
32 Ibid ; vgl. Schanes, Serbien, 2011, 158–159,
33 Kraus, Die Fackel 423–425 (1916), 23.
34 BV an Albert Ehrenstein, 21. November 1914, 69.2040/3, K31, A : Viertel, DLA.
35 BV an Albert Ehrenstein, 21. November 1914, 69.2040/3, K31, A : Viertel, DLA ; Leidinger, Selbst-
Auslöschung, 2012, 181–192.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359