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322 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
bestätigen konnte.55 Im Krieg richtete sich der Antisemitismus allerdings vor
allem gegen ein fremd und suspekt erscheinendes »Ostjudentum« : 1938 be-
schrieb Viertel in der Geschichte Der alte Jude, wie er im Februar 1915 mit einer
Gruppe von Trainoffizieren auf »die gebeugte Gestalt eines alten Juden im
Kaftan und […] schwarzen Käppchen auf dem Kopf« stieß. Der Oberleutnant
der Gruppe, ein »Wiener Gemütsmensch« und »brutaler Kerl«, hieb dem alten
Mann mit der Reitgerte die Kappe vom Kopf und rief : »Nimm den Hut ab,
Moses, wenn du einem österreichischen Offizier begegnest.« Während sich die
anderen, großteils jüdischen Reserveoffiziere um ein Lächeln bemühten, konnte
der bekannt vorlaute Viertel den Vorfall nicht hinnehmen. Er warf dem Ober-
leutnant Feigheit vor und forderte, er solle sich bei dem alten Mann entschuldi-
gen. Dieser erklärte : »Aber, mein Lieber, es war doch nur ein Jud. Du ärgerst
dich, weil du selber ein Jud bist. Du schämst dich deiner Rasse. Aber vergiß
doch nicht, daß du ein zivilisierter Jud bist. Du gehörst zu uns Ariern.« – Vier-
tel erwiderte, dass er sich durchaus schäme : Aber er schäme sich nicht seines
Judentums, sondern unter diesen Umständen ein österreichischer Offizier zu
sein. Der Oberleutnant »autorisierte« ihn daraufhin »liebenswürdig«, sich bei
seinem »Herrn Glaubensgenossen« zu entschuldigen. Viertel ritt zu dem alten
Mann zurück und bat ihn um Entschuldigung : »Und mit einer Ruhe, die mich
in Erstaunen setzte […], sagte der geschlagene Jude : ›Was wollen Sie, Herr ? Die
Leute sind meschugge. Würden Sie diesen Krieg machen, wenn sie bei Vernunft
wären ?‹«56
Als diese Geschichte in der Neuen Weltbühne erschien, lag der Vorfall 20
Jahre
zurück : Deutschland und Österreich waren nationalsozialistisch und vor diesem
Hintergrund wirkt die Beschreibung des »weisen« alten Juden, den Viertel mit
den Patriarchen und Propheten verglich, als idealisierter Gegenmythos zur na-
tionalsozialistischen Propaganda. Wie der Antisemitismus hatte auch dieser
Gegenmythos seine Vorgeschichte im Frühjahr 1915 : Damals ging die Begeg-
nung mit dem sogenannten »Ostjudentum« an der Front bei vielen jüdischen
Intellektuellen – wie auch bei Viertel – Hand in Hand mit Verherrlichung und
gleichzeitiger Abwertung. Der jüdische Erfolgsautor Martin Buber stand we-
sentlich hinter der kulturzionistischen Erhöhung der Jüdinnen und Juden Ost-
europas zum »Inbegriff wahrer jüdischer Identität«, die durchaus völkische und
neoromantische Dimensionen hatte.57 Berthold Viertel fand auf seinem Kanz-
leiposten nun wieder Zeit und Ruhe, sich dem Betrachten und Schreiben zu
55 BV, Rascher Rückblick auf harmlose Zeiten, o.D., 303, K19, A : Viertel, DLA ; Schmidl, Habsburgs
jüdische Soldaten, 2014, 96–97 ; Sieg, Jüdische Intellektuelle, 2001, 72, 115–116.
56 BV, Der alte Jude, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 170–173.
57 Sieg, Jüdische Intellektuelle, 2001, 40–44, 195–217.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359