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328 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
mentlich erwähnt und das mit gutem Grund. Viertel äußerte sich zwar auch hier
durchaus defätistisch, wusste aber genau, was er nicht sagen konnte.
Im Sommer 1915 hatte Viertel wie gesagt die nötige Freiheit, wieder über
seine Zukunft als Dichter und Regisseur nachzudenken. Er las sein erstes Buch
Die Spur neu und befand : »Mit schlechtem Gewissen gedichtet.«85 Er schickte
Albert Ehrenstein nun laufend »Couverts« mit Gedichten, die sich nicht mehr mit
dem Krieg an sich befassten, sondern höchstens mit dem Leid, das er verursach-
te.86 Im November wurde er zum Oberleutnant der Reserve ernannt und kurz
darauf mit der bronzenen Militärdienstmedaille am Bande des Militärdienstkreu-
zes ausgezeichnet.87 Nach zwei ereignisreichen Jahren hatte er genug vom Krieg :
»Wäre der Krieg zuende. Ich bin seiner Anarchie nicht ge wach sen.«88
1916 begann im Westen die monatelang andauernde Schlacht um Verdun.
Berthold Viertel an der Ostfront war »ganz verstimmt« – allerdings nicht nur
über den Krieg, sondern auch über seine (mangelnde) Präsenz in den Publikati-
onen des Kurt Wolff-Verlages, speziell in der expressionistischen Lyrik-Reihe
Vom Jüngsten Tag.89 Er beschloss nach einem zehntägigen Urlaub in Wien im
April 1916, wo er sich »nur ganz provisorisch und widerrechtlich« fühlte :90
»Nach dem Krieg will ich energisch schriftstellern, nicht dichten ! Und da werde
ich sogar gekauft werden, wetten wir !«91
Nur zeitweise verließ er 1916 und 1917 die »Zonen der höheren Kanzleien«,
um wieder im Außendienst einen Etappentrainzug zu übernehmen.92 Vor allem
arbeitete er nun in einer Holzbaracke, die er »mit über hundert Pferden teilte«, an
seinem Essay Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit.93 Voll schlechtem Gewissen
wunderte er sich nun über seine Haltung bei Kriegsbeginn : »Wie selbstverständ-
lich […] schickten wir uns […] in das Unerhörte ; wir gingen ohne Übergang ; wir
brachen unser Leben auseinander, als hätten wir fünfzig Leben […].«94
85 BV, Kriegstagebuch (Manuskript, Heft ohne Umschlag), o.D., o.S. [Juli bis September 1915], K18,
DLA.
86 BV an Albert Ehrenstein, 16. August 1915, 69.2041/2, K31, A : Viertel, DLA.
87 Makularpare Berthold Viertel, KA, ÖStA ; Urkunde des k.u.k Kriegministeriums, 23.12.1915, K21,
A : Viertel, DLA.
88 BV, Kriegstagebuch (Manuskript, Heft ohne Umschlag), o.D., o.S. [Juli bis September 1915], K18,
DLA.
89 BV an Hermann Wlach, 25. Februar 1916, H.I.N. 227992, Sammlung BV, HS, WBR ; BV an Eh-
renstein, 26.
Februar 1916, 69.2042/126 und 26.
April 1916, 69.2042/3, K31, A : Viertel, DLA.
90 BV an Hermann Wlach, 26. April 1916, H.I.N. 227993, Sammlung BV, HS, WBR.
91 BV an Albert Ehrenstein, 26. April 1916, 69.2042/3, K31, A : Viertel, DLA.
92 BV an Albert Ehrenstein, 30. Mai 1916, 69.2042/4, K31, A : Viertel, DLA.
93 BV, Heimkehr (4. Dezember 1948), in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 184.
94 BV, Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit, in : Ginsberg (Hg.), Dichtungen und Dokumente, 1956,
277.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359